Gingold, David, Ester, Fanny, Moritz, Peter und Siegmund
Moszek/Moritz Gingold wurde in Inowlotz in der Region Lodz geboren. Nach der Schneiderlehre verließ er Polen, um dem Militärdienst zu entgehen. Esther Wroblesky kam in Kliwo, einem kleinen „Schtetl“, ebenfalls in der Nähe von Lodz, als vorletztes von sechs Kindern zur Welt. In Frankfurt lernten sich Moszek, der sich jetzt Moritz nannte, und Esther kennen. Da Moritz Gingold als Deserteur keine Geburtsurkunde vorlegen konnte, reisten die beiden nach London, wo die Gesetze liberaler waren. Sie heirateten im Rathaus von White Chapel im jüdischen Viertel Londons. Nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt wurden 1913 die Zwillinge David und Dora geboren, 1914 folgte der Sohn Leo.
1915 zog die Familie nach Aschaffenburg, wo 1916 die Zwillinge Peter und Gusta zur Welt kamen. Gusta starb kurz nach der Geburt. Im Herbst 1917 wurde die Tochter Fanny geboren und 1922 Siegmund. Die Familie besuchte regelmäßig die Synagoge und feierte die religiösen Feste. Esther Gingold nahm die jüdischen Speisegesetze, zum Beispiel beim Pessach-Fest, sehr genau. Sie war eine jiddische Mama, wie sich ihr Sohn Peter erinnerte.
1929 zog die Familie wieder zurück nach Frankfurt. Nachdem der Schneiderladen des Vaters mit Drohungen und antisemitischen Parolen beschmiert worden war, flüchtete die Familie im Frühjahr 1933 mit Hilfe eines Schleusers nach Frankreich.
Nur der Sohn Peter Gingold blieb zurück. Er hatte nach dem Besuch der jüdischen Volksschule eine kaufmännische Lehre begonnen. 1930 war er in die Gewerkschaftsjugend des Zentralverbandes Deutscher Angestellten (ZDA) eingetreten und 1931 in den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD). Im Spätsommer 1933 wurde Peter Gingold bei einer Razzia der SA verhaftet. Nach mehreren Wochen Gefängnis wurde er mit der Auflage entlassen, Deutschland sofort zu verlassen. In Saarbrücken organisierte eine Frau, später erfuhr er, dass es Johanna Kirchner war, seinen Grenzübertritt nach Forbach. Ende 1933 war die Familie Gingold in Paris wiedervereint.
Aber alle besaßen nur ein Récépissé, ein Aufenthaltspapier ohne Arbeitserlaubnis, das alle drei Monate verlängert werden musste. Erst 1935 beim Entstehen der kurzlebigen Volksfront unter Léon Blum erhielt die ganze Familie die endgültige Aufenthaltserlaubnis. Leo und Peter fanden Anstellung beim „Pariser Tagesblatt“, Peter war zudem in einer kleinen Gruppe des KVJD tätig. Der Rest der Familie arbeitete im Restaurant mit jiddischer Küche, das Esther Gingold eröffnet hatte. Vater Maurice (Moritz) war der Oberkellner.
1936 gründete Peter Gingold zusammen mit anderen jungen deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten in Paris die „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ). Auch seine Geschwister David, Leo und Fanny gehörten zu der Gruppe. Hier lernte Peter Ettie Stein-Haller kennen, die am 11. März 1913 in Czernowitz in Österreich-Ungarn geboren wurde und aus der Bukowina nach Paris gekommen war.
Am 1.September 1939 fielen die deutschen Truppen in Polen ein. Frankreich erklärte Deutschland den Krieg. David und Leo Gingold wurden im Stade de Colombe interniert. Peter Gingold, im Besitz einer Kennkarte mit dem Vermerk „Nationalité indéterminée“ heiratete Ende Januar 1940 Ettie Stein-Haller. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde Peter Gingold im Mai 1940 als Prestataire (Arbeitssoldat) in der Nähe von Nimes interniert. Dort traf er wieder auf David und Leo, die als Holzarbeiter in den Cevennen verpflichtet worden waren.
Während
die Bevölkerung von Paris im Juni 1940 massenhaft auf der Flucht vor der
heranrückenden Wehrmacht war, wurde Peters und Ettie Gingolds erste Tochter
Alice geboren.
Auch
Moritz und Esther Gingold mit dem jüngsten Sohn Siegmund waren auf der Flucht
nach Süden. Nachdem es der ganzen Familie gelungen war, wieder in das besetzte
Paris zurückzukehren, schloss sich Siegmund Gingold der „Jeunesse Communiste“
an. Er wurde verhaftet und im Herbst 1940 zu sechs Monaten Haft verurteilt und
danach mehrere Wochen in einer Kaserne interniert. David, Leo, Peter und Fanny
und andere Mitglieder der FDJ bildeten eine Gruppe. Sie versuchten mit
deutschen Soldaten in Kontakt zu kommen, antinazistische Propaganda zu
verbreiten und deutsche Dienststellen zu infiltrieren.
Moritz und Esther Gingold gelang es zusammen mit Fanny, Ettie und Dora mit ihrem Ehemann Henri Buchband, ein Versteck in der Nähe von Paris zu finden, wo sie vor den Razzien gegen jüdische Familien einigermaßen sicher waren. Die beiden Kinder von Dora und Henri Buchband, Hélène und Gilbert, konnten zusammen mit Alice Gingold bei einer Bauernfamilie in einem Dörfchen an der Marne in Sicherheit gebracht werden.
Als die massenhafte Verhaftung der jüdischen
Bevölkerung Mitte Juli 1942 begann, fielen Leo und später bei einer Razzia auch
Dora in die Hände der Gestapo. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und
ermordet. An sie erinnern bereits seit 6. November 2007 Stolpersteine in der
Breite Gasse in Höhe des nicht mehr bestehenden Hauses Nummer 23.
Peter
Gingold verließ dann Paris, weil die Gestapo nach ihm fahndete. Er ging nach
Dijon, wo er in der „Travail Allemand“ (TA), einer Gruppe in der Résistance,
tätig war. Anfang Januar 1943 wurde
er verhaftet, verhört und gefoltert und nach Paris überführt. Dort gelang ihm
unter abenteuerlichen Umständen die Flucht. Er schloss sich wieder der
Résistance an und lebte illegal mit gefälschten Ausweisen in Paris.
David
und Siegmund Gingold wurden in einem von einem deutschen Zivilisten geleiteten
landwirtschaftlichen Betrieb als Dolmetscher angestellt und konnten von dort
ihre Sabotagearbeit fortsetzen. Ettie Gingold schrieb währenddessen in ihrem
Versteck auf einer kleinen Schreibmaschine die Matrizen für die
Propagandaflugblätter, die vom „Komitee Freies Deutschland für den Westen“
(C.A.L.P.O. = Comité >Allemagne libre< pour l`Ouest) verteilt wurden.
Fanny Gingold war als Kurierin und Geldtransporteurin der „Travail Allemand“ in
Frankreich unterwegs.
Am
6. Juni 1944 erhielt Siegmund Gingold ein Telegramm mit der Nachricht:
„Henriette hat entbunden“. Das war der Code für die Landung der alliierten
Truppen, das Codewort für die Befreiung. Für die Überlebenden der Familie
Gingold wurde Frankreich zur zweiten Heimat.
Peter und Ettie Gingold kehrten 1945 mit ihrer Tochter Alice nach Frankfurt zurück und wohnten in der Reichsforststraße 3 in Frankfurt-Niederrad. 1946 wurde die Tochter Silvia geboren. Peter und Ettie Gingold wurden in der KPD aktiv. Peter Gingold gehörte 1947 zu den Gründern der hessischen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Im Herbst 1956 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er war somit nominell „polnischer Herkunft“. Die Familie bekam damit einen Fremdenpass. Es bedurfte langjähriger politischer Auseinandersetzungen, bis eine Einbürgerung erreicht werden konnte.
Peter Gingold gehörte der DKP seit deren Gründung 1968 an, 1990 kandidierte er auf der offenen PDS-Liste für den Deutschen Bundestag.Ettie Gingold starb am 3. Juni 2001, Peter Gingold am 29. Oktober 2006. Ihr Töchter Alice Czyborra und Silvia Gingold leben in Essen und Kassel.
Die Stolpersteine wurden initiiert von der Ettie-und-Peter-Gingold-Erinnerungsinitiative und finanziert von der Erinnerungsinitiative, Bruni Freyeisen, Robert Gilcher, Siegfried Heß, Jürgen und Elke Lamprecht, sowie Axel Seiderer
Literatur:
Siegmund Gingold: „Jude, Kommunist und Widerstandskämpfer - Erinnerungen eines
Unerwünschten“, Berlin 2005
Peter
Gingold: „Paris – Boulevard St. Martin No. 11 - Ein jüdischer Antifaschist und
Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik“, Köln 2009
Moritz Gingold | |
Geburtsdatum: |
18.8.1891 |
Flucht: | Juli 1933 Frankreich |
Esther Gingold, geb. Wroblewsky | |
Geburtsdatum: |
15.8.1890 |
Flucht: | Juli 1933 Frankreich |
David Gingold |
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Geburtsdatum: | 11.7.1913 |
Flucht: | Juli 1933 Frankreich Im Widerstand / Résistance |
Peter Gingold |
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Geburtsdatum: | 8.3.1916 |
Flucht: | Herbst 1933 Frankreich Im Widerstand / Résistance 1943: Haft und Folter in Dijon und Paris Befreit |
Fanny Gingold | |
Geburtsdatum: |
2.11.1917 |
Flucht: |
Juli 1933 Frankreich Im Widerstand / Résistance |
Siegmund Gingold | |
Geburtsdatum: | 7.11.1922 |
Flucht: |
Juli 1933 Frankreich Im Widerstand / Résistance |