Gerst, Ella und Gustav

Gerst, Ella und Gustav

Stolperstein-Biographien in Niederrad

Gerst, Ella und Gustav

 

Gustav Gerst wurde in Bamberg in Oberfranken als Sohn des Hopfenhändlers Simon Gerst (1839-1915) und seiner Frau Marie Gerst, geb. Biermann (1848-1928), geboren. Er wuchs mit zwei älteren Schwestern auf, Hedwig (Jg. 1867) und Klara (Jg. 1868).

 

Er erlernte den Kaufmanns-Beruf, wahrscheinlich im elterlichen Geschäft und später wahrscheinlich bei H. & C. Tietz, wo er auch seine zukünftige Frau Ella Tietz kennenlernte. Ella war die Tochter von Markus Tietz (1849-1901) und Julie Tietz, geb. Baumann (1853-1930). Das Kaufhaus in Bamberg war Ellas Mitgift. Ella und Gustav heirateten am 17. Januar 1901.

 

Ellas Eltern waren 1886 von Prenzlau in Brandenburg nach Bamberg gezogen und hatten dort 1886 unter dem Namen H. & C. Tietz eine Posamentier- und Kurzwarenhandlung gegründet. Aus diesen Läden entstand später die Kaufhauskette mit Filialen in Chemnitz, Schweinfurt, Erfurt und Coburg. Die Familie Tietz stammte ursprünglich aus Birnbaum im Wartheland (heute Międzychód, Polen) und entwickelte von dort aus starke geschäftliche Aktivitäten. Der ältere Bruder von Markus Tietz, Herrmann Tietz, hatte 1882 ein Kurzwarengeschäft in Gera gegründet und war später der Finanzier der nach und nach entstehenden vier untereinander verwandten Tietz-Unternehmen.

 

Nach dem Tod ihres Mannes übernahm Julie Tietz 1901 die Geschäftsführung des Bamberger Unternehmens und übergab ihrem zweiten Schwiegersohn Gustav Gerst die Leitung des Bamberger Kaufhauses. Dieser wurde zur selben Zeit von seinem Vater auch zum Mitinhaber der Fa. Gebr. Gerst (Hopfenhandlung) eingesetzt. 1905 erhielt Gustav Gerst Prokura für das Unternehmen H. & C. Tietz, das zu jener Zeit Kaufhäuser in Bamberg und Chemnitz betrieb.

 

Auch während des Ersten Weltkriegs entwickelten sich die Geschäfte der Kaufhäuser positiv. Mit vielen Spenden unterstützte Gustav Gerst in Bamberg Arme und Waisen, so dass ihm 1918 der Ehrentitel ‚Kommerzienrat‘ verliehen wurde.

 

1919 übergab Julie Tietz die Unternehmensleitung komplett an Gustav Gerst. Um näher bei ihren Frankfurter Enkeln zu sein, zog sie 1919 mit Gustav und Ella Gerst von Bamberg nach Frankfurt, zunächst in den Reuterweg 26 bis sie schließlich 1921 die Villa in der Niederräder Landstraße 10 kauften und bezogen. Zuerst von der Savignystraße 25, später vom Kettenhofweg 11 aus verwaltete Gustav Gerst die Kaufhäuser in Bamberg und Chemnitz.

 

Das Warenhaus L. Tietz auf der Zeil, das 1929 eingeweiht wurde, gehörte nicht zu H. & C. Tietz, sondern Ellas Onkel Leonhard Tietz in Köln. Dieses Frankfurter Kaufhaus Tietz befand sich ungefähr dort, wo später das Kaufhaus Kaufhof stand, auf der Zeil 112-116 (Ecke Große Eschenheimer Straße).

 

Die wohlhabende Familie Gerst-Tietz integrierte sich schnell in das Frankfurter Bürgertum. Gustav und Ella Gerst waren ein emanzipiertes jüdisches Ehepaar, Gustav ein angesehener, zielstrebiger, erfolgreicher Kaufmann, ein Menschen- und Pferdefreund und auch ein Kunstfreund. Zu seiner Sammlung gehörten Gemälde von Rubens, Liebermann und Spitzweg sowie wertvolle Keramik, Teppiche und Bronzen aus dem chinesischen Kaiserpalast. Er war Mitglied in verschiedenen Frankfurter Vereinen, so im Patronatsverein der Städtischen Bühnen, im Bühnenbund, im Reit- und Fahrverein, in der Senckenberg-Gesellschaft und im Mitteldeutschen Kunst- und Gewerbeverein, in der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft.

 

Gustav Gerst engagierte sich als Förderer und Mäzen in der Stadt Frankfurt und wurde aufgrund seiner großzügigen Spenden Ehrenbürger der Universität Frankfurt. Bereits 1930 wurde ein Reitweg im Stadtwald ‚Gerstweg‘ genannt. Da er mit seiner Frau täglich ausritt, hatte Gerst Kontakt zu Forstmeister Bernhard Jacobi, der Spender für einen neuen Goetheturm suchte. Gustav Gerst spendete 1931 für die Errichtung des neuen Frankfurter Goetheturms 28.000 Reichsmark. Jacobi berichtete später von den Bedingungen, die Gerst bei der Spende gestellt hatte: dass er als Spender niemals genannt werden wollte, dass der Aufstieg für alle jederzeit kostenlos sein sollte und dass der Turm 200 Jahre halten sollte. Jacobi beschäftigte 600 arbeitslose Menschen, um den Stadtwald attraktiver zu machen, mit einem neuen Weiher (später Jacobiweiher) und einem neuen Turm. Am 23. November 1931 wurde der neue Goetheturm eingeweiht.

 

Erst nach Gustav Gersts Tod in den USA 1948 wurde seine Spende öffentlich bekannt: bei der Wiedereröffnung des Goetheturms 1949 durch Oberbürgermeister Walter Kolb wurde eine Tafel mit dem Namen des Spenders Gustav Gerst enthüllt.

 

Der Judenboykott am 1. April 1933 traf alle Kaufhäuser in jüdischem Besitz, wodurch auch Gustav Gersts H. & C. Tietz in Bamberg und Chemnitz schwere Vermögensverluste erlitt, da er auf den eingekauften Waren sitzen blieb und die Gehälter der fast 1.500 Angestellten weiterzahlen musste. Im August 1934 zwang man Gustav Gerst, als Geschäftsführer aus dem Unternehmen auszuscheiden. Schließlich wurde Ende 1938 die Geschäftstätigkeit eingestellt und Konkurs angemeldet.

 

Im November 1936 kündigte die Stadt Frankfurt den Erbbauvertrag für die Villa Gerst in Niederrad ohne Ankündigung. Das Ehepaar Gerst musste ausziehen, sie zogen zunächst in eine Pension in der Brentanostraße, später in die Bockenheimer Landstraße 69. Bis zu ihrer Ausreise im April 1939 mussten sie noch öfter umziehen. In die Villa Gerst zog die NS-Gauleiterschule ‚Jakob-Sprenger-Schule‘ ein, die zuvor in der Villa Manskopf betrieben wurde.

 

Teile der Kunstsammlung gab Gustav Gerst ab 1934 dem Frankfurter Kunsthändler Julius Hahn zum Verkauf. Für ihre Gemälde von Weltrang - Rubens, Lieberman, Spitzweg etc. - erhielten die Gersts kein Geld oder nur lächerlich geringe Beträge. Die wertvollen Gemälde sind nie wieder aufgetaucht.

 

Der Dirigent Max Rudolf Ephraim (später Max Rudolf), Ella Gersts Neffe, war bereits 1935 mit seiner Familie von Prag nach Göteborg geflüchtet. Er drängte Gustav und Ella Gerst, Frankfurt bald zu verlassen. „Aber Gustav wollte nicht“, erinnerte sich Max’s Sohn später. Immerhin konnte Gustav Gerst davon überzeugt werden, zumindest einen Teil des Vermögens in die Schweiz zu schaffen, wo Ellas Schwester Toni lebte.

 

Erst 1939 entkamen Gustav und Ella Gerst mit knapper Not nach Schweden. Gerettet hat sie u. a. Ellas Freundschaft zu der Frau eines SS-Offiziers; sie hatte die Familie gewarnt, dass eine Deportation bevorstehe. Die Familie Rudolf emigrierte bereits 1940 von Göteborg in die USA. Unter sehr bescheidenen Bedingungen überlebten die Gersts in Göteborg den Zweiten Weltkrieg. Ihr Plan, in die USA zu fliehen, scheiterte zunächst an ihrer Mittellosigkeit. Die Weiterreise nach New York gelang erst am 24. Juli 1946. Gustav und Ella bezogen eine Wohnung direkt über der Wohnung von Max und Liese Rudolf am Riverside Drive.

 

Von dort forderte Gustav Gerst, der zu dieser Zeit schon schwer an Krebs erkrankt war, bei den Alliierten die Rückgabe seiner Sammlung, womit er scheiterte. Gustav Gerst starb am 14. März 1948 in New York, Ella Gerst am 29. November 1974 New York.

 

Die Stolpersteine wurden initiiert von Dr. Mada Mevissen und finanziert von Gisela Schill und Thomas Claus.

 

Gustav Gerst
Gustav Gerst © ISG Ffm

Aufnahme aus dem Gerstschen Familienalbum, späte 1920er Jahre
Aufnahme aus dem Gerstschen Familienalbum, späte 1920er Jahre © Privat

Das Kaufhaus Tietz in Frankfurt am Main, Zeil 116-122
Das Kaufhaus Tietz in Frankfurt am Main, Zeil 116-122 © Wikipedia

Das 1910 errichtete Warenhaus H. & C. Tietz in Bamberg
Das 1910 errichtete Warenhaus H. & C. Tietz in Bamberg © Wikipedia

Der Frankfurter Goetheturm
Der Frankfurter Goetheturm © Wikipedia

Die Stifter-Tafel am Goetheturm
Die Stifter-Tafel am Goetheturm © Wikipedia

Mit der Familie Gerst eng verbunden: William Bill Rudolf mit seiner Tochter Margaret und Enkel Alex
Mit der Familie Gerst eng verbunden: William Bill Rudolf mit seiner Tochter Margaret und Enkel Alex © Privat

 



 

Gustav Gerst 
Geburtsdatum: 15.08.1871 
Flucht:   26.4.1939 Schweden 

 

Ella Gerst, geb. Tietz 
Geburtsdatum:  06.01.1881 
Flucht: 26.4.1939 Schweden

 

 

Stolperstein Niederräder Landstraße 36, Gerst, Gustav
Stolperstein Niederräder Landstraße 36, Gerst, Gustav © Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main

Stolperstein Niederräder Landstraße 36, Gerst, Ella
Stolperstein Niederräder Landstraße 36, Gerst, Ella © Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main

 

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