Stadtschreiberfest 2012
Abschiedsrede:Thomas Lehr
Liebe Bergen-Enkheimer,
Liebe Freunde,
Liebe Gäste,
so rasch vergeht also ein Jahr. Die Zeit ist noch immer der flüchtigste Schmetterling. Als jemand, der einen ganzen Roman über dieses Phänomen geschrieben hat, sollte es mich nicht wundern, aber es wundert mich doch. Auch diejenigen, die keine Bücher schreiben, können sich der Erfahrung der begrenzten persönlichen Raum-Zeit-Ressourcen wohl kaum entziehen. Da fährt man sein Lebtag lang von Bergen nach Enkheim und von Enkheim nach Bergen, und am Ende heißt es, man sei doch immer nur in Frankfurt gewesen. So ist das Leben.
Im vergangenen Jahr habe ich mich sehr bemüht, wurde ich sehr bemüht, der räumlichen Begrenztheit ein Schnippchen zu schlagen. Nicht nur, dass ich häufiger zwischen dem Häuschen in Bergen und meiner Berliner Wohnung pendelte. Mein Roman September erwies sich als wild gewordenes Reisebüro, das mich nach einem schwer ergründlichen Muster durch die Welt schickte. So war ich sowohl für das Stadtschreiberamt als auch für mein Berliner Privatleben zu oft nicht da und vermisste nicht selten gleich zwei heimische Orte. In Hotels in Moskau, Istanbul, Kopenhagen oder Rom erwachte ich manchmal schier orientierungslos und trug mir auf, ja nicht zu rasch die steile Treppe hinab zu wollen, damit ich nicht in der Stadtschreiberküche bauchlandete. Sie sehen, man trägt an Bergen wie an einem Schneckenhaus. Wenn ich aber da war, ob allein während meiner Lesereisen oder in den Schulferien mit meiner Familie, dann ist mir alles auch schneckenhausnah und heimisch vorgekommen und ich habe mich sehr wohlgefühlt.
Anders als erwartet, habe ich mich nicht ausgiebig über die Bergen-Enkheimer Geschichte hergemacht und als Schriftsteller gleichsam über den Ort gebeugt. Statt dessen ließ ich mich einfach hineinfallen und dahintreiben, während ich an meinen Projekten, Ideen und Aufträgen feilte. Die aufschlussreichen Fahrten mit dem 43-er-Bus zur Seckbacker Landstraße, das ethnologisch ergiebige Einkaufen bei REWE, das Vorbeibummeln an der Schelmenburg mit einem stets lohnenden Abstecher zu Frau Steinkopfs Bücherstube bilden schon jetzt kaleidoskopische und ein wenig nostalgische Momente für die Schneekugel, in die sich Bergen-Enkheim in meiner Erinnerung einmal verwandeln wird. Dass es mir der Berger Hang besonders angetan hat, wissen die meisten, die mich von meinen Dauerläufen den Hang hinab und durchs Ried haben schwärmen hören. Die Streuobstwiesen mit ihrer aussichtsreichen Lage haben mich begeistert und überhaupt die ganze – schon allein geografisch - nachdenkliche Position, die Bergen gegenüber Frankfurt einnimmt. Wenn man übers Maintal hinschaut, unterhalb der unsichtbaren, schier waagerechten Luftstraßen, auf denen sich die Flugzeuge wie am Schnürchen reihen, hinüber zur Skyline der Frankfurter Alpen im Glas-, Marmor- und Betonglanz, dann hat man von der Fluglärmdebatte bis zur Eurokrise sofort genügend Gründe, sich im Hang zu verbuddeln oder im nächsten Apfelbaum ein Dichterbaumhaus zu bauen und nach einer Sprache zu suchen, die das alles zu fassen versucht.
Im vergangenen Jahr, dem kurzen Jahr meiner Amtszeit, ist nun wahrhaft genügend passiert, um im Dichterhaus grübelnd auf und ab zu steigen wie ein schizophrener Wetterfrosch. Die Eurokrise konnte ich nicht lösen, was wohl daher rührt, dass ich noch nie mit Geld umgehen konnte. Dass das CERN endlich das Higgs-Teilchen gefunden zu haben scheint, war für den Autor von 42 endlich mal eine unbeschwerte Wissenschaftsnachricht (obgleich dieses scheue Partikel ja alle Schwere des Universums mit sich bringen soll). Dem Verfasser des Romans September, als der ich mich Ihnen vor einem Jahr hauptsächlich vorstellte, ist, wie Sie sich denken können, angesichts der Entwicklungen in der islamischen und arabischen Welt das Herz oft schwer geworden. Wenn man die Situation in Afghanistan, im Irak, in Ägypten und insbesondere in Syrien betrachtet, ist es kaum noch möglich, im eigenen Schneckenhaus die Ruhe zu bewahren. Einen einzigen, vielleicht doch nicht zu vernachlässigenden Lichtblick kann ich aber in den Irrungen und Wirrungen der historischen Modernisierungskrise der arabischen Länder finden, nämlich, dass die Auseinandersetzungen immer „innergesellschaftlicher“ oder innenpolitischer geworden sind. Mit dem so genannten arabischen Frühling wurden im großen Stile die Fragen aufgeworfen, wie sich die inneren Machtverhältnisse klären, bessern und demokratischer gestalten könnten, um die Entwicklungs- und Gerechtigkeitsdefizite zu beseitigen, anstatt alles im fruchtlosen propagandistischen Abwehrkampf gegen Israel und die USA beim schlimmen Alten zu lassen. Ob es in den nächsten Jahren bald gut oder wenigstens deutlich besser geht, kann im Augenblick wohl niemand genau sagen. Aber man muss sehen, dass bestimmte historische Entwicklungen – sei es die sich über nun schon eineinhalb Jahrhunderte hinziehende Modernisierung der islamischen Welt oder eine erfolgreiche und nachhaltige Etablierung einer gemeinsamen Währung - den verdammt langen Atem der Geschichte braucht, der dem einzelnen menschlichen Leben oft unerträglich schwer und walfischhaft erscheint.
Im Dichterhaus versucht man damit und natürlich auch mit vielen anderen Aspekten des zeitgenössischen Daseins irgendwie zurechtzukommen. Nach Antworten oder Lösungen zu suchen, wäre sicherlich vermessen. Eine halbwegs adäquate Reaktion, eine Entgegnung oder ein Widerspruch manchmal, das Ausweisen einer trotzigen Empfindsamkeit – das ist das, was man sich vornehmen und bewältigen kann, wenn man so über und unter sich selbst dahinsteigt, an der Oberpforte Nummer vier. Ich glaube, es muss dieses sinnfällige vertikale Verhältnis zu sich selbst sein, was einen – neben den schönen dort lagernden Büchern der Vorgänger – in fruchtbare Unruhe versetzt. Selbst wenn ich nur einen oder zwei Tage im Stadtschreiberhaus verbrachte, trieb es mich zur Schrift, der Hausgeist ist da ganz unerbittlich. Es fehlt eigentlich nur der Ausblick auf den Berger Hang – und eine Geschirrspülmaschine. Der Kulturgesellschaft sei Dank: Es hat sich nun ein solches High-Tech-Gerät im 50-er-Jahre-Ambiente des Häuschens niedergelassen. Der Stadtschreiber ist im 21. Jahrhundert gelandet. Aber zurück zum übergeordneten Ganzen...
Die Sprache, sagt Martin Heidegger, ist unser Haus in der Welt. Vieles ist daran und doch wieder nicht. Mir kommt die Sprache eher vor wie Wittgenstein sie sah: als eine ganze Stadt, mit einem jahrhundertealten Kern, zentralen Plätzen, Kirchen und Gebäuden, Bankenvierteln, Villengegenden, Slums und Banlieus, in der wir uns im Lauf unseres Lebens zurechtfinden müssen. Das Haus oder das individuelle Schneckenhaus in der Welt wäre dann die Sprache als meine Sprache, als Ergebnis des künstlerischen, dichterischen Versuchs, eine ganz eigene Wohnform zu errichten, die man mit jedem Werk für sich neu entdeckt und dem Leser zu dauerhaften Miete überlässt.
Für das heimische oder gar heimatliche Gefühl allerdings reichen weder Sprache noch Haus. Wenn man viel reist, sei es physisch oder mental, wird einem sehr deutlich bewusst, dass einen weder die eigenen Kunst allein noch die Schneckenhäuser, Krebspanzer, Austernmuscheln der verschiedenen Behausungen zureichend verankern. Am Ende sind es doch die Menschen, die man liebt, schätzt und achtet, die einen in der Welt beheimaten, das was sie sagen, denken, mitteilen, wozu sie einem auffordern und anhalten.
Insofern ist das Häuschen an der Oberpforte Nummer vier nicht so wichtig. Das heißt viel weniger wichtig als diejenigen, die den Stadtschreiberpreis ausrichten, pflegen, mit ihrem Organisationstalent erhalten und mit Sinn erfüllen. Ohne dass ich hier einzelne Namen aufführen möchte, sei allen und jedem einzelnen für dieses Engagement gedankt, insbesondere aber auch dem Publikum, das hier wirklich mitgeht und das Stadtschreiberamt zu einer lebendigen Institution macht. Mein Amtsnachfolger, Marcel Beyer, ein brillanter Schriftsteller und neugieriger Erdkundler, wird sich bestimmt hier wohlfühlen und Ihnen, liebe Bergen-Enkheimer, gewiss spannende und gehaltvollen literarische Entdeckungen unterbreiten.
Ich verabschiede mich als halber Schelm und erhebe mein Geripptes auf Ihr Wohl!
(c) Thomas Lehr, Juli 2012
Antrittsrede: Marcel Beyer
Wattestäbchen
Am besten, liebe Stadtschreiberfestgäste, am besten lernt man einen Menschen, ganz gleich, ob er nun Schriftsteller ist oder nicht, kennen, indem man ihm beim Kofferpacken zuschaut.
Oder beim Kofferauspacken, sobald er das Ziel seiner Reise erreicht hat. Denn dann beginnt er, und so geht es sicherlich auch manchem unter Ihnen, nach etwas zu suchen, von dem der Reisende überzeugt ist, er habe es eingepackt, um wenig später – der Kofferinhalt liegt über Tisch und Bett verstreut – zu begreifen, er hat diesen Gegenstand vergessen. Und schlagartig ist die Erinnerung wieder da: Genau dieses Reiseutensil hat noch jedesmal im Koffer gefehlt, wenn er sich auf den Weg an einen fremden Ort machte, an dem er mehr als ein paar Nächte verbringen wollte.
Was fehlt als erstes? Beim einen ist es vielleicht die Haarbürste, bei einem anderen die Zahnseide, beim dritten sind es die Kuschelsocken. Ich will Ihnen verraten, was ich in meinem Gepäck vermisse, wann immer ich eine längere Reise unternehme: Es sind die Wattestäbchen.
Ich habe es in Leuk im Wallis erlebt, in New York, in Rom: Ich denke an die Zahnbürste, an Zahncreme, ans Rasierzeug, an Kopfschmerztabletten und Heftpflaster, ich denke sogar ans Dinkelkissen und ans Schuhputzzeug. Dann will ich mir am ersten Morgen nach dem Duschen nur rasch die Ohren putzen, bevor der Schreib- oder Erkundungstag beginnt, ich wühle in der Toilettentasche, greife in jedes der unzähligen, völlig widersinnigen, aberwitzig kleinen, mit Reiß- oder Klettverschluss versehenen Abteile im Koffer oder am Rucksack, aber es gibt keine Wattestäbchen.
Also mache ich mich – in den Ohren gurgelt ein Ozean: ich hätte ein wenig zivilisierter duschen sollen – auf den Weg ins nächste Rossmann oder Duane Reade oder Casa & Co. Ich weiß, schon ehe ich die Drogerie betreten habe: Unerklärlicherweise wird die Packung zu zweihundert Wattestäbchen wieder nur einen Bruchteil der Packung zu zwanzig Wattestäbchen kosten, und ich weiß ebenso, dass ich dem Zweihundert-Wattestäbchen-Preisvorteil erneut erliegen werde, obwohl ich, kaum angekommen, damit zugleich auch schon ein erstes Abschiedsbild vor Augen habe: Am fernen Morgen der Abreise sehe ich mich noch einmal durch die Zimmer gehen und prüfen, ob ich auch tatsächlich alles eingepackt habe. Im Bad fällt mein Blick, wie jedesmal, auf eine transparente Plastikbox mit einhundertdreiundneunzig, einhundertachtundachtzig oder vielleicht auch nur einhunderteinundsiebzig Wattestäbchen, weiß und rein wie an jenem mittlerweile so weit zurückliegenden Tag nach der Ankunft, als mir beim Duschen zum erstenmal Wasser in die Ohren lief.
Ich reise ab – und habe keine Ahnung, ob die nachfolgenden Gäste die restlichen Wattestäbchen aufbrauchen werden. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, meinerseits schon einmal eine angebrochene Schachtel vorgefunden zu haben, als ich ein vorübergehendes Quartier bezog. Auch scheue ich mich, am Abreisetag bei den Nachbarn zu klingeln und ihnen die Wattestäbchen anzubieten – das wäre merkwürdig, wäre ein bißchen so, als wollte man eine zur Hälfte leergedrückte Tube Zahncreme verschenken.
Vielleicht will man dem künftigen Bewohner einer Bleibe weder Wattestäbchen noch Blasenpflaster zurücklassen, weil sie eine sonderbare Verwandlung durchlaufen haben. Im Drogeriemarkt oder im Kaufhaus sehe ich sie, sieht jedermann sie hundertfach vor aller Augen ausgebreitet, doch sobald sie in meinen Besitz gelangt und in meinem Koffer verstaut – oder eben im Gepäck vergessen – sind, handelt es sich bei ihnen um intime, nur mir gehörende Dinge, die niemanden sonst etwas angehen, oder: die man keinem Unbekannten zumuten kann.
Sie sagen etwas über mich. Auch wenn ich Ihnen jetzt nicht erklären könnte, was sie sagen. Die Dinge, scheint es, sprechen ihre eigene Sprache.
Nun könnten Sie einwenden, einen Menschen lerne man nicht am besten kennen, indem man seinen Kofferinhalt betrachtet, sondern indem man sein DNA-Profil analysiert, der Mensch sei eine Ansammlung von biologischen Daten, und erst aus diesen heraus ergebe sich sein Verhalten – etwa beim Kofferpacken.
Und Sie könnten fragen, warum der zukünftige Stadtschreiber sich nur so lange – nämlich bereits vier Minuten, wenn nicht länger – mit Wattestäbchen aufhält.
Könnte er nicht, damit Sie wenigstens ihn ein wenig kennenlernen, von seiner Arbeit sprechen, über literarische Fragen, über den Schreibprozess, der sich bei jedem Autor so verschieden gestaltet, wie im Gegenteil alle Wattestäbchen dieser Welt – oder zumindest einer Großpackung – eines dem anderen bis aufs letzte Baumwollhärchen gleichen?
Aber genau damit habe ich begonnen: Über das Schreiben und über den Prozess zu sprechen, an dessen Ende ein Text entstanden ist, indem ich hier von Wattestäbchen spreche, von einem alltäglichen Detail, das – wie die Sprache im Alltag – kaum der Beachtung wert scheint, das sich aber – wie das Wort in der Literatur – zu einem merkwürdigen, geheimnisvollen, vielleicht entscheidenden Moment entwickeln kann, sobald wir in die Welt der Imagination vorstoßen.
Schreiben – das hat für mich viel damit zu tun, mich in Menschen hineinzudenken, seien sie mir nun sympathisch oder nicht. Menschen, über die ich häufig vorderhand gar nichts weiß, Menschen am Nebentisch, Menschen im Zug vielleicht.
Ich bin mir sicher, auch Sie erleben es immer wieder, dass etwa in einem Café am Nebentisch ein Paar sitzt, das Ihre Aufmerksamkeit weckt – und ganz unvermittelt beginnen Sie, ohne dass Sie die Unterhaltung der beiden verfolgen könnten, zu phantasieren, in welchem Verhältnis diese beiden Menschen zueinander stehen, welchen Hintergrund sie haben, auf welchen Weg sie sich machen werden – zusammen oder getrennt –, sobald sie ihren Kaffee ausgetrunken und die Rechnung beglichen haben.
Die merkwürdigsten, die Imagination am stärksten anregenden Erlebnisse solcher Art ergeben sich, wie Sie sich vorstellen können, in fremdsprachiger Umgebung, wo man sich ganz auf den optischen und den klanglichen Eindruck verlassen muss, da man beim besten Willen kein Wort des Gesprächs am Nebentisch verstehen könnte.
Ich erinnere mich da zum Beispiel an einen älteren Herrn und eine jüngere Dame in einem Eck-Café in Paris, das meiner Lebensgefährtin und mir einmal an einem faulen, verregneten Vormittag sofort auffiel – ich verstand nichts, tippte aber sofort auf die Konstellation ›Sugar Daddy und unzufriedene Geliebte‹.
Als die beiden wieder auf die Straße getreten waren, lachte meine Lebensgefährtin, sie war nicht umhin gekommen, Fetzen der Unterhaltung aufzuschnappen, und erklärte mir: Der Mann sei in der schwierigen Lage gewesen, seiner Geliebten einerseits zu erklären, er könne sich wirklich nicht von seiner Gattin scheiden lassen, andererseits aber sei er derzeit leider auch nicht in der Lage, seiner Geliebten zum Trost eine neue Einbauküche zu kaufen.
Ob sie daraufhin die Koffer gepackt oder ihrem Liebhaber seinen Koffer vor die Tür gestellt hat? Das bleibt Ihrer, bleibt unserer Phantasie überlassen.
Schreiben heißt, sich in wirkliche Menschen hineinzudenken, aber auch: in unwirkliche, in erfundene, in überhaupt erst nach und nach in der Imagination entstehende Menschen, in literarische Figuren also.
Ich bin Schriftsteller: Ich schaffe Phantome. Um Phantome handelt es sich bei meinen Figuren selbst dann, wenn ich ihnen Namen realer Personen gebe, wenn ich ihnen Charakterzüge und Verhaltensweisen wirklicher Menschen zuschreibe.
Ich bringe sie – auf dem Papier und in der Phantasie des Lesers – zur Welt, ich lasse sie sterben. Wobei kein wirklich existierender Mensch sterben muss oder in Lebensgefahr gebracht wird, wenn ich schreibe.
An dieser Stelle kommen nun wieder die Wattestäbchen ins Spiel. Und vielleicht ahnen Sie ja längst, auf welche – ganz realen – Wattestäbchen ich es abgesehen habe.
Es sind, zugegeben, nicht die 1923 von dem aus Warschau stammenden Leo Gerstenzang für die Körperpflege erfundenen und im Handel unter der Bezeichnung Q-Tips bekannt gewordenen, heute überhaupt nicht mehr wegzudenkenden Wattestäbchen, sondern solche, mit denen man – einfallsreich ist der Kriminalbeamte – Spuren einsammelt, menschliches Datenmaterial.
Noch genauer: Wattestäbchen offenbar einer einzelnen Charge aus einem Werk im oberfränkischen Tettau-Langenau, wie sie die Polizei seit 1993 über Jahre hinweg verwendete, um DNA-Spuren an Tatorten in Deutschland, in Österreich und in Frankreich zu sichern.
Wattestäbchen, denen wir eine der bizarrsten Kriminalgeschichten der vergangenen Jahre zu verdanken haben. Aber »verdanken« ist hier nicht der richtige Ausdruck – stehen doch diese Wattestäbchen tatsächlich mit einer ganzen Reihe von Morden in Verbindung.
In der weichen, reinlich weißen Spitze eines Wattestäbchens kommen die reale, akute Welt um uns herum und die Welt der Imagination auf tragisch-absurde Weise zusammen.
Sie erinnern sich: Alles beginnt am 25. April 2007 in Heilbronn mit dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Die Polizei nimmt DNA-Spuren am Tatort, findet dieselben DNA-Spuren in der Folgezeit an weiteren Tatorten, bekommt aber das sogenannte Heilbronner Phantom, oder: die Frau ohne Gesicht, oder: die Unbekannte weibliche Person, »UwP«, wie sie im Polizeijargon hieß, nicht zu fassen. Weder leibhaftig, noch wenigstens in der Phantasie.
Denn die Spuren passen, so sehr man sich auch bemüht, ein kohärentes Bild von einer Person zu entwerfen, einfach nicht zusammen. Mal handelt es sich um eine Profi-Killerin, mal um eine Gelegenheitseinbrecherin, mal hat sie sie ein Auto gestohlen, mal kurz vor Eintreffen der Polizei an einem Tatort eine Dose Cola getrunken, die noch halbleer auf dem Tisch steht.
Man verfolgt Spuren ins »türkische Bandenwesen«, in »Sinti- und Roma-Kreise«, ins Drogenmilieu, ja, man zieht Verbindungen zu »slawisch sprechenden Drogenprostituierten« – mehr Klischees könnte kein Schriftsteller in drei Wörtern unterbringen, wollte er Phantasielosigkeit ins Bild setzen.
Ein Polizist bedauert, dass man sogenannte mobile soziale Gruppen, gemeint sind Roma, »nicht flächendeckend speicheln« könne, um DNA-Spuren zu vergleichen.
Man ist ratlos – und tut sich damit wichtig. Liest man in der »Zeit«, im »Stern«, in Tageszeitungen jener Zeit, stößt man auf grotesk-pathetisch daherkommende Formulierungen über die Unbekannte weibliche Person wie: »Nur daß sie da war, das ist sicher.«
Oder: »Die zwei Männer kennen die große Unbekannte, da sind sich die Ermittler sicher. Die Verhafteten aber schweigen.«
Oder: »Und wieder schweigen die Komplizen des Phantoms eisern.«
Oder: »Wer sie gesehen haben muss, leugnet. Aus Angst vermutlich.«
Nun, Angst war es nicht – die DNA-Spuren stammten von einer tschechischen Mitarbeiterin der Wattestäbchen-Firma, und sie war, soviel ist gewiss, in ihrem Leben weder an einem Mord noch an einem Autodiebstahl beteiligt. Alles, was sie getan hatte, war Baumwollbäusche auf Holzstäbchen zu pfropfen, tagein, tagaus, bis sie in Rente und wieder nach Tschechien ging. Was sie hierzulande hinterließ, waren kleinste, allerkleinste Hautpartikel an Wattestäbchen, die zu entdecken erst eine seit 2001 verfeinerte Technik der DNA-Analyse ermöglichte.
Nach dieser Entdeckung wurde die Suche nach dem Heilbronner Phantom im März 2009 eingestellt – inzwischen hatte man dieselben DNA-Spuren an mehr als vierzig Tatorten aufgenommen, zuletzt an den Fingerkuppen eines Mordopfers, das soeben seinen Verletzungen erlegen war.
Eine tragische Geschichte, weil man nun wieder am Anfang der Ermittlungen stand – vom heimlichen Wüten Rechtsradikaler ahnte man da noch nichts.
Liest man heute rückblickend, welchen Phantasien Kriminalpolizisten und Journalisten im Zusammenhang mit den vom sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund verübten Morden gefolgt sind, welchen Spekulationen sie sich hingegeben haben, gewinnt man den Eindruck: Die deutschen Aufklärungs- und Enthüllungsfachkräfte verfügten über eine nur schwach ausgebildete Imaginationskraft, ja, sie bezögen ihr Imagniationsmaterial in erster Linie aus US-amerikanischen Krimis. Von deren Handlung und Aufbau sie, zu allem Übel, kaum die Hälfte verstehen.
Denn der dramaturgische Kniff solcher Filme und Serien besteht doch gerade darin, daß die zu Anfang offensichtliche Spur sich am Ende als die garantiert falsche Spur erweist: Wird der Täter zunächst im Drogen- oder in sonst einem Milieu am Rande der Gesellschaft vermutet, ahnt der kluge, kombinationsfähige, sich von keinem Klischee blenden lassende Ermittler und Zuschauer bald, daß der Täter nicht am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft zu suchen ist, womöglich – eine typische US-Delikatesse – ganz in seiner Nähe, unter den Kollegen. Der Gesetzesbrecher kommt als Gesetzeshüter verkleidet daher.
Ein einfacher dramaturgischer Kniff, tausendmal angewandt – und trotzdem, scheint es, als Strickmuster, für deutsche Ermittler zumindest, immer noch eine Spur zu kompliziert.
Dabei sind solche US-Serien ja psychologisch nicht eben besonders komplex strukturiert: Am Ende geben sich noch jedesmal Gut und Böse zu erkennen, selbst wenn das Böse eine Zeitlang erfolgreich in Gestalt des Guten in Erscheinung getreten sein mag.
Dass sich am 6. April 2006 in einem Kasseler Internet-Café ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Pornos anschaut, wenige Minuten, bevor dort ein rassistisch motivierter Mord begangen wird – reiner Zufall und nicht der Rede wert. Dass zwei Kollegen von Michèle Kiesewetter Mitglieder des rassistischen Geheimbundes Ku Klux Klan waren – nichts weiter als ein kleines, dummes Missverständnis. Die beiden wollten »nette Frauen« kennenlernen – und klar, dafür näht man schon mal gerne alte Bettlaken zusammen und schneidet – etwa mit der Nagelschere, die darum immer im Necessaire fehlt? – Augenlöcher hinein.
Und wer weiß, ob wir zum Beispiel je erfahren hätten, dass man seinen Dienst beim Thüringer Verfassungsschutz durchaus in volltrunkenem Zustand erledigen kann, wenn nicht eines Tages in Eisenach ein Wohnmobil gebrannt hätte, in dem sich die Tatwaffe des Heilbronner Mordes fand.
Natürlich wissen wir alle heute mehr als Polizei und Presse vor dem 4. November 2011. Aber es geht mir beim Andeuten dieser weit verzweigten, haarsträubenden Wattestäbchengeschichte gar nicht darum, mich über Ermittlungspannen zu beklagen. Was mich bestürzt, ist der Mangel an Phantasie, der bei der Ermittlung – und ja vermutlich auch außerhalb der eigentlichen Arbeit – zum Ausdruck kommt. Das Bild vom Menschen – sei er nun Verbrecher oder nicht – entspricht der Typenzeichnung leider nicht im guten, sondern im primitivsten aller möglichen Krimis.
Anhand des Phantoms von Heilbronn und der Folgen lässt sich nachvollziehen, wie sich eine Überfülle an Datenmaterial auf der einen und ein allzu simples Menschenbild auf der anderen Seite aneinander reiben.
Trinkt nicht nur Coca-Cola, sondern tötet auch noch Polizistinnen? Das deutet im Rahmen küchen- und polizeipsychologischer Analysen geradewegs auf »mobile soziale Gruppen« hin, womit – Vorsicht – nicht etwa jene wachsende Zahl von Menschen gemeint ist, die nach Beendigung ihres Arbeitslebens ins Wohnmobil steigen und den Sommer über quer durch Europa fahren.
Diesem eklatanten Mangel an psychologischem Einschätzungsvermögen – von Gespür will ich hier gar nicht reden – stand im Fall des Heilbronner Phantoms eine Unmenge an DNA-Spuren gegenüber, aus denen sich einfach kein kohärentes Bild einer Person zusammensetzen ließ. Zweifel gab es, natürlich, aber doch nicht den leisesten Zweifel am Schablonendenken. Man ging schlicht nach dem Muster vor: Wenn drei Schablonen nicht genügen, um ein Bild von der geistigen Verfassung und dem Verhalten eines Menschen zu entwerfen, müssen statt der drei eben auch mal dreißig Schablonen angelegt werden.
Für derart spektakulären psychologischen Real-Unfug würde sich jeder Schriftsteller, dem es mit dem Schreiben ernst ist, bis zum Verlust des Bewusstseins selber ohrfeigen.
Die Literatur soll wie das Leben sein? Um Himmels Willen – bitte nicht. »Geschichten, wie sie das Leben schreibt« – sind schlechte Literatur, und: »Geschichten, die sich so lesen, als hätte das Leben sie geschrieben« – blieben besser in der Schublade, weil die Welt zugleich so viel erschreckender und geheimnisvoller ist als sie.
Eine Literatur dagegen, der ich mich verpflichtet fühle, vertraut, wo es um den Menschen geht – und sei er auch ein erfundener Mensch – weder auf die zeitgenössische Datensammeleuphorie, noch auf eine aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Form von Trivialpsychologie, die schon damals nicht nur lächerlich, sondern auch gefährlich war.
Mittlerweile sind Verantwortliche entlassen, Posten neu besetzt, unsere »Sicherheitsorgane« geloben, in Zukunft transparenter zu werden, noch mehr Daten zu sammeln, untereinander auszutauschen, weniger Daten zu schreddern, und man gelobt, natürlich, in Zukunft achtsamer mit den Wattestäbchen umzugehen – aber an der verbreiteten trivialen Vorstellung, was der Mensch sei, wird sich, fürchte ich, nichts ändern.
Sucht man im Netz nach Kombinationen wie »Imagination« und »Heilbronner Phantom«, oder »Imagination« und »NSU«, verweist das einzige halbwegs treffende Ergebnis darauf, dass im Februar dieses Jahres in Berlin bei einer Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer der sogenannten Zwickauer Terrorzelle auch John Lennons »Imagine« zur musikalischen Umrahmung gehörte.
Von obligatorischen Imaginationsschulungskursen für Mitarbeiter unserer »Sicherheitsorgane« ist mir dagegen noch nichts zu Ohren gekommen. – Aber Kurse bräuchte es ja überhaupt nicht, es würde vollauf genügen, läsen Polizeiermittler, Geheimdienstleute und Politiker einfach einmal mehr als jenes eine Buch im Jahr, das ihre Gattinnen ihnen jeden 24. Dezember hoffnungsvoll unter den Weihnachtsbaum legen.
An diesem Punkt allerdings heißt es für mich innehalten – denn mir ist bewusst, ich könnte mit den letzten Sätzen selber einem bloßen Klischee aufgesessen sein.
In zwanzig Minuten habe ich Sie nun vom alltäglichen Kofferpacken mitten ins Herz der Poetologie geführt, von der aktuellen Welt um uns herum mitten in mein Schreiben – und ich hoffe, auf diesem Gedankenweg, auf diesem Imaginationsweg haben Sie mich heute bereits ein wenig kennenlernen können.
Ich freue mich sehr darauf, Bergen-Enkheim und Sie, die Bergen-Enkheimer, im kommenden Jahr kennenzulernen, freue mich, dass ich meinen Koffer nun erst auspacken werde, während Thomas Lehr den seinen schon wieder gepackt hat.
Ich bin geehrt, und ich bin wunschlos glücklich. Sogar an Wattestäbchen habe ich diesmal gedacht.
© Marcel Beyer
Festrede: Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber
Sehr geehrter Marcel Beyer, neuer Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, sehr geehrter Thomas Lehr, scheidender Stadtschreiber, liebe Frau Schneider, sehr geehrte Mitglieder der Jury, meine Damen und Herren,
ob es Sigmund Freud, dem Gründer der Psychoanalyse, nach dem unser Forschungsinstitut in Frankfurt benannt ist, zu verdanken ist, dass Sie mir heute die große Ehre zukommen lassen, die Festrede zu halten? Jedenfalls bin ich sicher, dass sich Freud - wie viele meiner heutigen psychoanalytischen Kolleginnen und Kollegen - über dieses Zeichen der Liaison zwischen Psychoanalyse und Literatur ausgesprochen freuen würde und bedanke mich herzlich für Ihre Einladung.
Die Jury charakterisiert Marcel Beyer als „Fährtensucher und Entdecker in historischen und geografischen Räumen“[1]. Für mich ist er vor allem ein „Fährtensucher der Erinnerung“. Wie mein Landsmann Roman Bucheli in seiner Besprechung des Romans “Kaltenburg“ in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb:
»... ist hier ein Schriftsteller am Werk, der gegen das Verstummen anredet, der den Stummen eine Stimme leiht und mit den Mitteln der Poesie der Toten gedenkt. Denn dies ist dieser Roman: Ein Buch der Geschichten, das mit dem Zauber der Sprache einen Bann über der Geschichte zu lösen verspricht - den Bann des Schweigens...« Wie Marcel Beyer nach den „Fährten“ der Traumatisierungen in den Geschichten seiner Protagonisten sucht, in immer wiederkehrenden Schleifen von Assoziationen und minutiösen Beobachtungen – über viele Seiten hinweg -, mag durchaus an unsere Tätigkeit als Psychoanalytiker erinnern, wenn wir versuchen durch Assoziationen und tastendes Verstehen der verstummten Seele in der therapeutischen Beziehung eine neue Sprache zu verleihen, um sie aus der Erstarrung, dem Verstummen herauszuführen. „Psyche lässt sich auf den Wörtern nieder ...“ lese ich bei Marcel Beyer.[2]
Haben Sie deshalb eine Psychoanalytikerin ausgesucht, die zwar - wie Sie, verehrte Frau Schneider, mir bei der persönlichen Einladung versicherten - keine Laudatio auf den neuen Stadtschreiber halten soll (dies könnte ich nun wirklich nicht), sondern vielmehr das - wie mir versichert wurde - freundlich neugierige „Zeltpublikum“ von Bergen-Enkheim „frei assoziierend“, mit einigem bekannt machen darf, was uns in unserem Fachgebiet heutzutage beschäftigt? Ich kann nur hoffen, dass Sie, verehrtes „Zeltpublikum“, meinen Gedanken etwas abgewinnen können, obschon es sicher sehr ungewöhnlich, ja vielleicht sogar „etwas schräg“ ist, in einem Festzelt Gedanken zum Unbewussten, dem intimen Gegenstand der Psychoanalyse, zu folgen. Wenigstens werden Sie mir in meinem Schweizer-Deutsch gut folgen können - ich rede langsam, gemächlich und werde sie nicht auf literarische Höhenflüge mitnehmen: Dazu werden Sie Ihre beiden Stadtschreiber gleich selbst entführen. Wie Max Frisch an diesem Ort 1981 erinnerte, ist und bleibt für uns Schweizer das Deutsche eine Fremdsprache, die wir mühsam lernen müssen, weswegen wir eben etwas langsam reden. Doch meinte Frisch dazu: „In einer Sprache, die man gelernt hat, redet man nicht flinker als man denkt“ (S.98)
Aber soll ich wirklich einfach nur „frei assoziieren“? Geht es nicht stattdessen auch in meiner kleinen Festrede, selbstverständlich, um Marcel Beyer, den „meisterlichen und gewissenhaften Erzähler“, der „eine Literatur der Tiefe und Dezenz“ schafft und souverän und sachkundig das „Verhältnis von Macht, Wissenschaft und Technologie in der jüngeren deutschen Geschichte“ untersucht , wie die Jury weiterschreibt?
Schriftsteller und Künstler verfügen über einen „direkten Zugang zum Unbewussten“, wie Freud voll Bewunderung feststellte. Sie brauchen weder Couch noch Wissenschaft: in ihren Werken fassen sie Erkenntnisse in Sprache oder Bilder, um die wir, als therapeutisch tätige Psychoanalytikerinnen, mit unseren Patienten oft mühsam ringen müssen.
Daher werden mich einige der Romanfiguren von Marcel Beyer nun bei meinen Gedanken zu der therapeutischen Wirkung von Erinnerung, meinem Fachgebiet, begleiten...
I. „Zukunft ist von außen wiederkehrende Erinnerung. Daher hat die Gedächtnislosigkeit keine...“ so schrieb mein Kasseler Kollege und Philosoph Ulrich Sonnemann.
„Nachts, als ich durch die Parkanlage irrte, traf mich auf einmal etwas hart an der Schulter, ohne dass jemand in der Nähe gewesen wäre. Kein Faustschlag, keine Berührung eines Tieres, das mir von hinten hätte zusetzen können, und auch kein abgebrochener, durch die Luft gewirbelter Ast, der auf dem Boden zersplittert wäre. Es klang zugleich dumpf und fest, und als der Gegenstand auf die Erde gefallen war, rollte er noch ein Stückchen weiter. Ich fand ihn, schwarz, fasste ihn an, ein wenig klebrig, bröckelig, die Oberfläche aufgeraut, ich hob den Klumpen vor meine Augen, ein Batzen Teer vielleicht, ganz einfach Schlacke. Ich hob ihn an die Nase - wie im Reflex aber warf ich ihn weg, so weit wie möglich von mir fort. Was ich gerochen hatte, war: verbranntes Fleisch.
Der nächste Schlag, diesmal auf den Kopf. Ich rannte los. Ich rannte zwischen den Bäumen und Kratern und dann den Menschen auf der Lichtung umher, doch je länger ich lief, um so verzweifelter erschien mir meine Lage, überall kamen diese verbrannten Brocken herunter, und selbst, wenn ich glaubte, einen Moment lang verschnaufen zu können, unter der umgelegten Wurzel einer großen Eiche, im Schatten einer freistehenden Mauer, hörte ich sie überall um mich herum auf dem Boden aufschlagen, als kämen sie näher, als kreisten mich die tot aus dem Himmel fallenden Vögel ein[3],"- so eine „wiederkehrende Erinnerung“ von Herrmann Funk an das brennende Dresden und den traumatischen Verlust seiner Eltern – eine anhaltend traumatisch wirkende Erinnerung, die mit ihrem Schmerz, ihrem körperlichen Entsetzen und einer eher eingefrorenen Trauer seine Gegenwart bestimmt und auch seine Zukunft verschatten wird. Im Gegensatz dazu verschwindet der Professor für Ornithologie, Kaltenburg, eines Tages in der Umbruchzeit der ehemaligen DDR plötzlich ins Nichts, eingeholt von verstummten Erinnerungen, angedeuteten dunklen Geheimnissen, fatalen politischen Verwicklungen mit der nationalsozialistischen Rassenideologie, die sich durch nichts bannen ließen: nicht durch die Flucht in eine scheinbar „objektiv-neutrale Welt der Forschung“, auch nicht durch narzisstische Größenphantasien, in denen er sich als einen genialen Forscher sieht[4].
Marcel Beyer ist ein „Fährtensucher in historischen Räumen...“
Sogar für unsere Berufsgruppe, die sich jeden Tag mit den Schatten der Vergangenheit im aktuellen Seelenleben unserer Patienten befasst, brauchte es Jahrzehnte, um die Langzeitfolgen der Erfahrungen und Traumatisierungen durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg vertieft zu erkennen. Es war eine große Studie zu den Langzeitwirkungen psychoanalytischer Behandlungen, in der wir über 400 ehemalige Patienten nachuntersuchten, die in den 1980er Jahren bei Psychoanalytikern unserer Fachgesellschaft in Behandlung gewesen waren, in der sich - für uns völlig unerwartet - herausstellte, dass 62% dieser Patienten als Kinder im Zweiten Weltkrieg schwere Traumatisierungen durch den Verlust naher Bezugspersonen, Bombardierungen, Gräueltaten, Flucht, Vergewaltigungen, Hunger und Krankheiten erlitten hatten, die sie als unbewusste Körpererinnerungen in sich trugen und die schließlich unerkannt schweres seelisches Leiden hervorbrachten, sodass sie sich in therapeutische Behandlung begeben mussten. Viele von ihnen entdeckten wie Frau A., eine Fabrikarbeiterin mit gravierenden psychosomatischen und psychischen Symptomen, erst in der Psychoanalyse den unbewussten Sinn ihrer Leiden und Einschränkungen. Frau A. sagte dazu im Interview: „Ich weiss nun: Ich bin nicht verrückt, weil ich immer und immer wieder vom Geruch von verbranntem Fleisch und schwersten Alpträumen verfolgt werde. Es sind die eingegrabenen Spuren in meiner Seele, weil ich als Dreijährige miterlebte, wie meine Großeltern in ihrem Haus verbrannten... Dass ich dies nun weiß, macht so einen Unterschied für mich und meine Familie. Es ist unsere Geschichte!“
II. Warum hat es über 40 Jahre gedauert, bis wir uns in unserer Fachgesellschaft über diese Einsichten der Verknüpfung von individuellen und kollektiven Traumatisierungen unserer Kriegskinder-Patienten sprechen konnten?
Verständlicherweise waren es vor allem die schweren Schuld- und Schamgefühle über die nationalsozialistischen Verbrechen, in die auch Mediziner und andere Helferprofessionen in entsetzlicher Weise verwickelt gewesen waren, wie u. a. der Gründer des Freud-Instituts, Alexander Mitscherlich, in seinem wohl wichtigsten Werk „Medizin ohne Menschlichkeit“ zu den Nürnberger Ärzteprozessen beschrieben hatte. Es gibt es eine große und berechtigte Scheu, die unsere Vorstellungskraft übersteigenden grauenhaften Erfahrungen der Opfer der Shoah und die transgenerative Weitergabe der Extremtraumatisierungen in ihren Familien in einem Atemzug mit dem Leiden der 2. und 3. Generation der Täter und Mitläufer in Deutschland zu nennen. Viele psychoanalytische Forscher haben sich seit den 1950iger Jahren in ihren Arbeiten vor allem den Überlebenden der Shoah zugewandt, um gemeinsam mit ihnen gegen ein Verstummen ihrer Erinnerungen anzukämpfen. Geoffrey Hartmann, Dori Laub, Shoshana Felman und ihre Kollegen archivierten als eine der ersten internationalen Forschergruppen hunderte von Testimonies von Überlebenden im Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University in New Haven, um die Erinnerung an die Shoah auch für kommende Generationen im Bewusstsein zu halten. Dori Laub engagierte sich mit Hillel Klein und einer Gruppe von Psychoanalytikern in den 1980iger Jahren auch im Freud-Institut um Testimonies, also Zeugnisse von Überlebenden aufzunehmen, die in das Land der Täter zurückgekehrt waren, für sie oft ein retraumatisierender Ort, wie jahrelange psychoanalytische Studien an unserem Institut zeigen[5]. Immer wieder wird in diesen Testimonies festgestellt, dass das Zeugnisgeben für die Überlebenden viel bedeutet: Man kann vom Unvorstellbaren, was Menschen Menschen antun, nur erzählen, wenn jemand zuhört, ein öffentlicher Raum für die Erzählung existiert und gemeinsames Erinnern zumindest versucht wird.
„Zukunft ist von außen wiederkehrende Erinnerung. Daher hat die Gedächtnislosigkeit keine...“
Der Kampf um die Erinnerung ist ein Kampf um die Zukunft, gesellschaftlich, institutionell und individuell. Mit Konzepten wie Überlebenden-Syndrom und Seelenmord (William G. Niederland), „massive trauma“ (Henry Krystal) oder der „sequentiellen Traumatisierung“ (Hans Keilson) wird in Fachkreisen an die Folgen der Verfolgung bei den Überlebenden erinnert. Metaphern wie „empty circle“ (Dori Laub) oder „schwarzes Loch“ (Ilany Kogan u.a.) dienen Psychoanalytikern dazu, die vielfältige klinische Erfahrung mit Familien von Überlebenden zu fassen, dass sich die Zerstörung der Shoah nicht auf eine Generation begrenzen lässt: Ihre Folgen dringen oft in unerkannter Weise in das Leben und damit auch in die Identität und Sinnsuche der zweiten und dritten Generation ein. Judith Kestenberg prägte den Begriff der „Transposition“, um das Phänomen zu beschreiben, dass die Holocausterfahrungen unbewusst von der Generation der Eltern auf die Kinder „transponiert“ worden waren. Haydée Faimberg sprach vom „telescoping of the generations“ - vom „Ineinanderrücken der Generationen“ - und charakterisierte damit einen unbewussten Identifizierungsprozess, der drei Generationen verbindet und die Schranken zwischen ihnen durchlässig werden lässt: Kinder und Kindeskinder leben unbewusst oft teilweise in der traumatischen Realität ihrer Eltern und nur bedingt ihr eigenes, davon unabhängiges Leben.
Obschon etwa die Schriftstellerinnen, Lizzie Doron oder Lily Brett, selbst Angehörige der zweiten Generation von Überlebenden, wahrscheinlich diese psychoanalytischen Arbeiten kaum gelesen haben, erfassen und beschreiben sie die Mechanismen der transgenerativen Weitergabe der Extremtraumatisierung in ihren Romanen so präzise und plastisch wie wohl kein Psychoanalytiker in seinem Fallbericht. Daher waren und sind es weniger Erkenntnisse aus den vielen psychoanalytischen Studien zur Shoah, die zur kollektiven Erinnerung an den Zivilisationsbruch Auschwitz beitragen als Schriftsteller. Um nur einige hier zu nennen: Ich denke an Primo Levi, Jean Améry, David Grossmann, Anne Michels, Imre Kertész, Hans Keilson und vor allem auch an einen Ihrer ehemaligen Stadtschreiber, Jurek Becker. Sie verhelfen mit ihren Werken dazu, das unermessliche Leid und das namenlose Grauen, das einige von ihnen selbst erlebt haben, immer wieder der kollektiven Verdrängung zu entreißen.
III. „Ich wusste, dass eine wortlose, fast bewusstlose Erinnerung an den Krieg die meisten Menschen verfolgt, die ihn durchlebt haben, und in allen ist etwas zerbrochen für immer ...“
so schreibt der russische Schriftsteller Gaito Gasdanow (S.120). Der Fährtensucher Marcel Beyer spürt „Zerbrochenes“ auch bei den Tätern und ihren Kindern auf. In „Flughunde“ wird uns Martha Goebbels als „Medea“ durch das Erleben ihrer ältesten Tochter geschildert. Fast nebenbei geht es auch um die nationalsozialistische Erziehungsideologie[6], die noch Jahre nach 1945 weiterwirkte und in so mancher Form der „schwarzen Pädagogik“, der Einfühlungsverweigerung in die Schwäche und Abhängigkeit von Säuglingen und Kindern, auch heute noch aufscheint.
Wie Marcel Beyer anhand der Goebbels Familie minutiös beschreibt, sind es vor allem die unbewussten Identifikationen mit „Medea-Müttern“ und „Jason-Vätern“, durch die Verhaltens- und Erlebensweisen in Täterfamilien von der ersten bis zur dritten Generation weitergegeben werden. Kinder müssen sich mit ihren Eltern identifizieren, wie auch immer diese sind, um sich ihnen nahe zu fühlen, - mit ihren Werten und Idealen, ihren Sehnsüchten und ihrem Scheitern, und vor allem auch mit ihren Triebwünschen und -handlungen, in die Eltern ihre Kinder einbeziehen. Besonders fatal und nachhaltig wirken sich Einfühlungsverweigerungen und Missbrauch der Bedürftigkeit und der existentiellen Abhängigkeit des Säuglings von seinen Primärobjekten in den frühen Beziehungen aus. Diese frühen Beziehungserfahrungen, vermischt mit archaischen Phantasien und Konflikten, bleiben im Unbewussten erhalten und determinieren als untergründige Erlebensmuster die psychische Befindlichkeit. Sie schaffen jene bedrückende, depressiv- paranoide Grundstimmung, die Marcel Beyer in vielen seiner Romane und Erzählungen so präzise einfängt. Führen manche dieser transgenerativen Spuren von der vielbeklagten Kinderlosigkeit vieler heutiger Paare hier in Deutschland zurück zu den kollektiven Ideologien und Traumatisierungen der Großeltern - oder sogar der Urgroßeltern?
Solche Vermutungen sind als Generalisierung spekulativ, jedoch Wirklichkeit in einzelnen Lebensschicksalen, die wir in unseren psychoanalytischen Praxen detailliert kennenlernen, von denen wir aber aus Diskretionsgründen nur selten öffentlich berichten können. Frau B. willigte in eine Veröffentlichung einer Zusammenfassung ihrer Psychoanalyse ein, weil sie dadurch zur Aufklärung über die Langzeitfolgen von Krieg, Verfolgung und Trauma beitragen wollte und erlebt hatte, wie sehr es ihr Leben veränderte, als sich in ihrer Psychoanalyse die „Psyche auf den Wörtern niederließ ...“ .
Sie hatte in ihrem 52. Lebensjahr wegen schweren Depressionen eine Psychoanalyse begonnen. In der jahrelangen gemeinsamen Arbeit fanden wir schließlich heraus, dass sequentielle Traumatisierungen, wie das Aufwachsen mit ihrer schwer depressiven, „kalten“ und unempathischen Mutter, der fehlende, im Krieg physisch und psychisch zerstörte Vater, ein jahrelanger sexueller Missbrauch durch ihren Onkel, aber auch unerträgliche Schuldgefühle wegen zahlreicher Abtreibungen zwischen ihren 20. und 30. Lebensjahr unbewusst ihre chronische Depression mitdeterminiert hatten. Anhand eindrucksvoller Träume und daran anschließenden, gezielten Nachfragen bei ihrer Mutter zeigte sich schließlich, dass Frau B. mit ihren Abtreibungen - oft nach gewalttätigen, gefährlichen sexuellen Eskapaden - unbewusst „embodied memories“, in den Körper eingegrabene Erinnerungen, an eine brutale Vergewaltigung ihrer Mutter durch russische Soldaten 1945 ausagiert hatte. Es waren traumatische Erfahrungen als Dreijährige, die sie bisher aus dem Bewusstsein verbannt hatte. Wiederholen, statt erinnern und durcharbeiten - ein für uns Psychoanalytiker nur allzu bekanntes Phänomen.
IV. Der Zusammenhang zwischen Trauma und Depression, wie wir ihn in der Psychoanalyse mit Frau B. entdeckten, wird in der Fachwelt noch zu wenig diskutiert, obwohl die Depression als Krankheitsbild ständig zunimmt, sodass die WHO bekanntlich von einer Volkskrankheit spricht: Heute leiden weltweit 121 Millionen Menschen unter dieser Krankheit, davon allein 5,8 Millionen in Deutschland. In unserer großen Depressionsstudie, die wir z.Zt. durchführen, hatten 84% der chronisch depressiven Patienten, die wir in Frankfurt in psychoanalytischen Behandlungen haben, kumulative Traumatisierungen erlitten. Jede dieser Traumageschichten ist unvergleichbar mit anderen: das Schicksal von Frau A. ist nicht mit jenem von Frau B. gleichzusetzen. Doch alle münden schließlich in den unerträglichen Zustand einer chronischen Depression.
Wie erklären wir uns daher die weltweite Zunahme der Depressionen?
Ist die Depression, wie z.B. der französische Philosoph Alain Ehrenberg postuliert, Ausdruck eines „erschöpften Selbst“ , das Janusgesicht der Freiheit nach Selbstfindung in unserer sogenannten Postmoderne, der impliziten Forderung, das eigene Leben, die eigene Identität stets neu zu erfinden, um in der heutigen Welt sich ein unverwechselbares, einmaliges Gesicht zu formen? „Jeden Morgen wird die Welt neu eingerichtet - wie heißt die Welt, in der du morgens ankommst?“ schreibt Marcel Beyer.[7] Bei vielen depressiv erkrankten Menschen hier in Deutschland führen aber, wie bei den beiden erwähnten Frauen, manche Fährten zurück zu den zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die - oft in kaum fassbarer Weise – bei ihren Kindern und Kindeskindern das Lebensgefühl, den Verlust an Sinn und Werten, noch mit determinieren.
Wiederum sind es aber weniger Psychoanalytiker, die diese heimlichen Kontinuitäten in die Medien und in die Öffentlichkeit tragen, als vielmehr Schriftsteller wie Marcel Beyer und viele andere der zweiten und dritten Generation nach dem 2. Weltkrieg. Durch ihre literarische Gestaltung, den Zauber und den Sog der Sprache, durch die Übermittlung von Geschichten mit ihren symbolischen Gehalten, die an längst vergessene oder nie bewusst gewordene eigene Erfahrungen rühren, können sie für Leserinnen und Leser fast unbemerkt eine psychisch entlastende Wirkung entfalten. Bei der Lektüre werden sie mit eigenen, abgespaltenen Teilen ihrer Lebens- und Familiengeschichte in Verbindung gebracht und können dadurch unbewusst Eingefrorenes, Erstarrtes in sich zum Fließen bringen. In diesem Sinne kann Literatur durchaus eine heilende und präventive Wirkung haben.
V.[8] Auch in der Welt der Wissenschaften wächst die Sensibilität dafür, wie wichtig es ist, durch Frühpräventionen vor allem im Bereich individueller und kollektiver Traumatisierung Entwicklungen, die schließlich in chronische Depressionen münden, von vornherein zu verhindern. Lassen Sie mich daher meine Festrede in diesen etwas helleren Tönen ausklingen:
Psychoanalytisch inspirierte Neurowissenschaftler weisen darauf hin, dass frühe emotionale Vernachlässigungen die Entwicklung des Gehirns langfristig schädigen und daher möglichst frühzeitig erkannt und behandelt werden sollten[9]. Traumaexperten, wie z.B. der Genfer Psychoanalytiker und Entwicklungsforscher Daniel Schechter, zeigen minutiös auf, in welcher Weise traumatisierte Mütter ihre Traumatisierung unbewusst an ihre Säuglinge weitergeben und wie empfänglich und dankbar diese meist noch sehr jungen Frauen sind, wenn ihnen dieses Verhalten durch ein empathisches Forscherteam bewusst gemacht wird und sie dadurch die Weitergabe ihrer Traumatisierungen an die nächste Generation unterbrechen können. Zudem weisen zahlreiche Langzeitstudien aus der empirischen Bindungsforschung eindringlich auf die schlechte Prognose von Kindern mit einem sogenannten desorganisierten Bindungstyp hin. Diese Kinder haben durchwegs ein frühes Bindungstrauma erlebt: Ihre ersten Beziehungspersonen konnten ihnen nicht das basale Urvertrauen vermitteln, das sie so sehr brauchen, einen Hafen an Sicherheit und Zuflucht in Gefahrensituationen, sondern waren selbst durch Gewalt und Missbrauch zu Quellen von Angst und Gefahr geworden. Falls diese Kinder keine frühen Unterstützungen erleben, entwickeln sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit später selbst zu Tätern oder werden psychisch und psychosomatisch schwer krank. Doch zeigen erstaunlicherweise einige Studien aus der Resilienzforschung, dass durch auch noch so begrenzte korrigierende, positive emotionale Beziehungserfahrungen, etwa zu Verwandten, Erzieherinnen, Lehrerinnen oder auch zu sensiblen Nachbarn, die Gefahr solch bedrohlicher Entwicklungen durchaus abgewendet werden kann. - Schließlich hat kürzlich der Nobelpreisträger für Ökonomie, James Heckmann[10] nachgewiesen und in der Öffentlichkeit vehement vertreten, dass sich Frühprävention auch ökonomisch lohnt: Jeder Dollar, der in die Frühprävention investiert wird, zahlt sich später um mindestens das Achtfache aus.
Daher wird Frühprävention heute als eine der dringendsten gesellschaftlichen Aufgaben erkannt. Viele Frühpräventionsprojekte werden öffentlich oder durch Stiftungen gefördert. Wir selbst haben das Privileg, uns gemeinsam mit der JWG-Universität und dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in dem interdisziplinär angelegten IDeA Zentrum in Frankfurt in diesem Sinne zu engagieren. Zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie versuchen wir in verschiedenen Präventionsprojekten - im Sinne einer „aufsuchenden Psychoanalyse“ - die Erzieherinnen und Erzieher bei ihrer wichtigen tagtäglichen Integrationsarbeit zu unterstützen, um jene Familien zu erreichen, die am Rande der Gesellschaft leben, von der „neuen Armut“, und den Folgen von Arbeitslosigkeit und Finanzkrise betroffen sind - oder aber aus vielen Teilen der Welt bei uns Zuflucht suchen, weil sie und ihre Kinder dort, wo sie herkommen, etwa in Afghanistan, Syrien oder dem Sudan, schweren und nachhaltigen Traumatisierungen ausgesetzt sind, wie die Menschen hier in Europa vor 70 Jahren . Auch bezogen auf diese Menschen, die mitten unter uns leben, gilt es immer wieder, „den Bann des Schweigens“ zu brechen.
In diesem Sinne brauchen wir Stadtschreiber wie Sie, lieber Marcel Beyer. In Ihren Romanen, Erzählungen und Gedichten erinnern Sie uns an die Langzeitwirkung von Zivilisationsbruch, Traumata, Totalitarismus und Krieg und erschweren uns dadurch, wegzublicken und zu verleugnen. Stattdessen vermitteln Sie uns durch Ihre „Literatur der Tiefe und Dezenz“ einen Zugang zu unbewusst Verstummtem in uns, versunkenen historischen und geographischen Räumen und wecken einfühlende, jeweils ganz persönliche Erinnerungen.
„Es geht nicht um gemeinsame Erinnerungen, die Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln. Eher um Erinnerungen an Erlebnisse, die jeder allein gehabt hat, vielleicht allein gehabt haben muss. Literatur: ein Raum, den ich ausschließlich für mich habe und mit anderen teile..“ [11] schreiben Sie in ihrem letzten Buch.
Schreiben Sie weiter, lieber Herr Beyer, und nutzen Sie den intermediären Raum, den Ihnen das Amt als Stadtschreiber von Bergen-Enkheim in so einzigartiger Weise zur Verfügung stellt, für Ihre „Fährtensuche in historischen und geographischen Räumen“ - damit sich die „Psyche auf den Wörtern niederlässt“ und auch uns, Ihren Leserinnen und Lesern, Zugang zu bewussten und unbewussten Erinnerungen öffnet!
Nochmals: herzliche Gratulation und Ihnen allen danke fürs Zuhören!
Frankfurt a.M., August 2012 (c) Marianne Leuzinger-Bohleber
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[1] »Die Jury zeichnet mit Marcel Beyer einen meisterlichen und gewissenhaften Erzähler aus, der bereits ein umfangreiches Werk vorgelegt hat«, heißt es in der Begründung und weiter: »In seinen Romanen, Lyrikbänden und Essays erweist sich Marcel Beyer als Fährtensucher und Entdecker in historischen und geografischen Räumen. Sprachliche Akkuratheit, gedankliche Durchdringung des Themas, hohes dramaturgische Vermögen verstehen sich bei diesem Autor wie von selbst. Marcel Beyer schafft eine Literatur der Tiefe und Dezenz, die sorgfältig ihre Mittel und Effekte kontrolliert. Souverän und sachkundig untersucht er das Verhältnis von Macht, Wissenschaft und Technologie in der jüngeren deutschen Geschichte und fasst es in gültige Kunstwerke.« (Begründung der Jury vom 15.6.2012)
[2] In Putins Briefkasten, S.125
[3] Kaltenburg, (2009), S. 105.
[4] „ In Verlauf einiger schöner Frühlingstage verteilt Ludwig Kaltenburg die Manuskriptblätter der Rohfassung als Nistmaterial unter den in seinem Haushalt lebenden Nagern und Entenvögeln..“ ( Kaltenburg, S. 11)
[5] vgl. dazu www.sigmund-freud-institut.de
[6] “Wie der Scharführer seine Burschen triezt. Wie können diese Kinder noch vor Tagesanbruch solch ein schrilles Organ über sich ergehen lasse, ohne auch nur einmal zu mucksen? Ergeben sie sich da hinein, ertragen sie zähneknirschend die Erniedrigungen, diese halbstarke Herrenstimme, weil sie ihnen das Gefühl gibt, an einer Bewegung teilzuhaben, aus der sie selber als Herren erwachsen werden? Sind sie der festen Überzeugung, daß sich mit der Zeit eine ebensolche Stimme in ihren jungen Kehlen einpflanzen wird? “ (Flughunde, 1996, S. 11) (vgl. dazu u.a. Johanna Harer: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“).
[7] in Putins Briefkasten. IV, S. 99
[8] Dieser Abschnitt wird evtl. aus Zeitgründen beim Vortragen der Rede weggelassen.
[9] vgl. dazu u. a. Ammaniti, 2012, Feldmann, 2012, Schechter, 2012. Alle Vorträge, sowie weitere zu diesem Thema, die an der diesjährigen Joseph Sandler Research Conference im März 2012 gehalten wurden, sind auf der Website des Sigmund-Freud-Instituts nachzuhören (vgl. www.sigmund-freud-institut.de).
[10] Heckman, J.J. (2008): Early childhood education and care: The case for investing in disadvantaged young children. CESifo DICE Report, 6(2): 3–8.
[11] in: Putins Briefkasten, 2012, S. 111