Stadtschreiberfest 2009

Stadtschreiberfest 2009

Zeltreden

Stadtschreiberfest 2009

Abschiedsrede: Friedrich Christian Delius

Die Schlacht bei Bergen

Meine Damen und Herren,

 

eines schönen Sonntags in Bergen geriet ich mitten in eine Schlacht, die Schlacht bei Bergen. Im prächtigen Fachwerkhaus des Heimatmuseums hatte ich vieles erwartet, aber keinesfalls ein fürchterliches Gemetzel, das hier mit zweitausendzweihundertsechzig bilderbuchmäßigen Zinnsoldaten dargestellt war, die sich zwischen nachgebauten Stadtmauern, Häusern, Bäumen, Feldern und Kanonen gegenseitig ins Visier nehmen, totschießen oder schon totgeschossen haben.

 

Die Schlacht bei Bergen, nie gehört. Wann war das? 1759? Na gut, Bildungslücke, dachte ich, kannst du vergessen. Zweihundertfünfzig Jahre her, siebenjähriger Krieg, Preußen, Österreich, Frankreich, einer dieser aus heutiger Sicht völlig überflüssigen Prestigekriege mit komplizierten, aus heutiger Sicht absurden, ständig wechselnden Koalitionen, mit hunderttausenden von jungen Männern, abgeschlachtet von Flintenkugeln, Artilleriegeschossen oder Bajonettstichen. Ich halte zwar viel von Heimatkunde (ohne nordhessische Heimatkunde hätte ich zum Beispiel meinen neuen Roman über den Erfinder des Computers nicht schreiben können), aber ich bin kein Historiker. Über eine fast vergessene Schlacht will ich eigentlich nichts Näheres wissen, ich freue mich lieber, dass diese finsteren Zeiten und andere finstere Zeiten vorbei sind.

 

Aber wer, überlegte ich dann doch, kämpfte hier eigentlich gegen wen? Franzosen gegen Preußen. Aber warum? Und wer gewann? Die Franzosen. Und warum schlugen sie hier im Hessenland aufeinander ein, hier am schönen Berger Hang und direkt vor dem heutigen Stadtschreiberhaus?

 

Plötzlich wollte ich wissen, was vor meiner Tür, vor meinen Fenstern geschehen war, und schon sah ich das Schlachtfeld unter dem Asphalt, unter den Garagen und Vorgärten der Nachbarn. Ich sah Soldaten in blauen und in roten Uniformen über die Marktstraße stürmen, sah sie in der Haingasse und auf den Feldwegen fallen. Nein, ich war nicht verrückt geworden, da bin ich relativ sicher, solche Bilder zaubert sich ein Stadtschreiber gern einmal vor die Augen, zwischen dem Zähneputzen und der Rasur oder einfach so, zur Übung, zum Training seiner Phantasie- und Einbildungskraft. Es muss ein riesiges Schlachtfeld gewesen sein, zwischen der Berger Warte und dem Ludwig-Emmel-Weg und dem Vilbeler Wald. Und auf dem Marktplatz, ungefähr hier, wo jetzt dies Zelt steht, müsste der Verhau aus gefällten Bäumen, also eine Art Barrikade den Angreifern im Weg gewesen sein, dachte ich.

 

Das Diorama aus dem Heimatmuseum begann sich in meinem Kopf zu bewegen, und das ausgerechnet in den Monaten, als die Zeitungen jeden Tag ausführlich über die aktuellste Schlacht berichteten, die unsere Köpfe beschäftigte, die zwischen Frankfurt und New York, zwischen Berlin-Brüssel und Washington, die große Schlacht der Wertberichtigungen auf den Finanzmärkten. Auch das eine Schlacht mit komplizierten, absurden Koalitionen und Millionen Schwerstbetrogenen und Millionen von Illusionsverwundeten, die wie einst die Soldaten gedacht hatten, sie hätten ein halbwegs gesichertes Auskommen, einst bei der Armee, heute bei der Bank. So pendelten die Gedanken zwischen den beiden Schlachten hin und her, der Schlacht an der Oberpforte und der Schlacht in den bei jedem Spaziergang über der City aufragenden Bankentürmen.

 

Ich las weiter im Wirtschaftsteil der Zeitungen - und schaute aus dem Fenster und versuchte, mich ein wenig sachkundig zu machen über die Schlacht vor zweihundertfünfzig Jahren. Am meisten haben mir dabei die Aufsätze von Gerhard Clauß, Werner Henschke und Ingo Behringer über den „blutigen Karfreitag“ des Jahres 1759 geholfen, bei denen ich mich hier ausdrücklich bedanke.

 

Auch der siebenjährige Krieg, lernte ich, war ein Kampf um die Vorherrschaft zwischen England und Frankreich. Es ging um nichts geringeres als die Weltherrschaft, es ging um Nordamerika, um Indien, um die Weltmeere. Großbritannien war verbündet mit Preußen und Hannover, Thüringen, Hessen-Cassel. Frankreich mit Österreich, Russland, Sachsen, Württemberg. Und England finanzierte weitgehend die Preußen und ihre Alliierten, damit sie möglichst viele französische Truppen in Europa hielten und banden, sodass diese Truppen nicht in Übersee, in Indien oder Amerika eingesetzt werden konnten und die Engländer dort besser ihre Kolonien ausbauen konnten. Sie hatten dann ja bald alle Hände voll zu tun, in Nordamerika gegen die Unabhängigkeit der Amerikaner zu kämpfen. Deshalb war der siebenjährige Krieg, wie Historiker sagen, der Weltkrieg des 18. Jahrhunderts. Sie sehen, die Politik war schon damals eine hochspannende Angelegenheit.

 

Beide Parteien hatten es auf Frankfurt abgesehen, die Franzosen waren schneller und besetzten die Stadt, die Preußen versuchten es ebenfalls, kamen aber zu spät. Und statt sich nun im Waldstadion, am Bornheimer Hang oder am Bieberer Berg zu prügeln, trafen die Armeen unterhalb der Berger Warte aufeinander. Ein ideales Schlachtfeld für die Verteidiger, ein katastrophales für die Angreifer.

 

Rund um dieses Zelt, vor den Stadtmauern von Bergen, das muss man sich erst einmal richtig klar machen, das muss man sich erst einmal mit einer guten Rindswurst auf der Zunge zergehen lassen, hier in Bergen wurde nicht nur um die Mauern, die Berger Warte und das Obertor, die Oberpforte gekämpft, nein,hier kämpften London und Berlin gegen Paris und Wien. Und worum kämpften sie? Um das Neue York und das alte Kalkutta, um Kanada, um die Antillen und das Kap der guten Hoffnung. Bergen war Dreh- und Angelpunkt der Weltpolitik, jedenfalls am 13. April 1759.

 

Die Franzosen siegten, aber der Sieg nützte ihnen nichts, der Krieg ging ja weiter. Am Ende hatten sie zwar Bergen gewonnen, aber Amerika und Kanada und Indien verloren. Hätten die Preußen gesiegt, wie sie schon gut drei Monate später bei Minden gesiegt haben, hätte ihnen der Sieg auch nicht viel genützt. Der Krieg ging ja weiter, und fast wäre Preußen zerrieben worden.

 

Die Franzosen unter Broglio siegten, weil sie als erste auf dem Schlachtfeld waren und ausgeruht und von der Berger Warte aus die beste Sicht und freies Schussfeld hatten. Die Preußen unter Ferdinand von Braunschweig, Schwager des Alten Fritz, verloren, weil sie zu spät und erschöpft auf dem Berger Hang eintrafen und ihre Kanonen erst gegen Ende der schon verlorenen Schlacht einsetzen konnten. Die Preußen verloren vor allem deshalb, weil sie keine Spione oder schlechte Spione hatten. Der Herzog von Braunschweig dachte auf 3000 oder 8000 Feinde zu treffen, es waren aber 35000.

 

Es ist uns nicht verboten, meine Damen und Herren, vom Berger Marktplatz hinüberzuspekulieren zu den Bankentürmen in Frankfurt City. Wer will, mag aus der Vergangenheit ein paar lockere oder banale Schlüsse ziehen über die Kunst, den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort für Attacken oder Verteidigungen zu wählen, über den gelegentlichen Nutzen von Geheimdiensten, Schlüsse über das strategisch beste Verhalten in heutigen Krisenzeiten, bei feindlichen Übernahmen oder freundlichen Rettungspaketen oder kontraproduktiven Abwrackprämien. Man wird als Außenseiter auch fragen dürfen: Wie überflüssig war die Schlacht von Bergen? Wie überflüssig sind die heutigen Schuldenschlachten, wenn die alten Kämpen wieder fast ungehindert Beute machen dürfen auf alten oder neuen Schlachtfeldern?

 

Ich will hier nicht zu viel herumspekulieren, nur eine Sache noch, die dem Stadtschreiber an die Niere geht, und er hat nur noch eine. Also, den Blick noch einmal Richtung Westen zu den schönen Türmen. Da gab es einmal in Frankfurt eine Gruppe tüchtiger Steuerfahnder, die für besonders vermögende Nichtsteuerzahler und entsprechende Firmen zuständig waren. So kam wenigstens ein Teil der weggeschwindelten Millionen wieder in die Kassen des Landes Hessen. Dafür wurden diese vier Fahnder jedoch nicht befördert, sondern auf harmlose Posten versetzt, und als sie sich beim Finanzminister beschwerten und, weil der nicht antwortete, auch beim Ministerpräsidenten, wurden sie zu einem vom Land Hessen bevorzugten Psychiater bestellt, der sie nach jeweils einer Stunde Gespräch für „anpassungsgestört“ und damit für „dienstunfähig auf Dauer“ erklärte, worauf die pflichttreuen Beamten, darunter zwei im Alter von Mitte dreißig, vom Finanzministerium in den Ruhestand versetzt wurden. Diese Geschichte wurde, so weit ich sehe, in der hessischen Presse nur sehr zaghaft aufgegriffen, niemand will es sich mit dem Finanzminister verderben. Wie man hört, leide die Attraktivität des Finanzplatzes Frankfurt, wenn dort nach Recht und Gesetz gehandelt werde. Die entlassenen Beamten arbeiten inzwischen wieder, als Steuerberater für die Gegenseite, die Steuerschieber. Alle zufrieden? Alle zufrieden, dass Hessen so hübsch italienisch wird?

 

Ziehen Sie Ihre Schlüsse daraus, meine Damen und Herren, so wie ich die meinen aus der Schlacht bei Bergen ziehe.

 

Ist diese Schlacht wirklich schon vorbei? Ich sehe hier auf dem Marktplatz, in diesem Zelt und rund um dieses Zelt immer noch tausende Männer stürmen, stehen, schießen, liegen, brüllen, kommandieren. 35000 Mann bei der französisch-österreichischen Koalition, 27000 bei der britisch-preußischen. Stellen Sie sich vor, 62 Zelte groß wie dieses, nebeneinander, voll mit Männern, die statt Gläsern mit Bier und Äppelwoi Gewehre heben und dann Tisch für Tisch aufeinander losgehen, keine sehr appetitliche Veranstaltung. Am Ende soll es neunhundert tote Pferde, tausend Tote und gut viertausend Verwundete gegeben haben, aber die Zahlen sind Propagandazahlen, denn die wahren Zahlen waren natürlich keine Werbung für die beiden Armeen, die dauernd neue, junge Soldaten anwerben mussten.

 

Und die Leute von Bergen, wo blieben sie? Am Tag der Schlacht verzogen sie sich in die Gewölbekeller unter den Häusern. Kein Bürger kam um. Die Not begann danach.

 

„In der Nacht nach der Schlacht“, ich zitiere Gerhard Clauß, „regnete es weiter. Nun war auch die Stunde der Plünderer gekommen. Sie wussten, dass ein Soldat seine Barschaft und wertvolle Beutestücke ins Gefecht mitnahm. Nun holten sie sich, was vorher anderen abgenommen worden war. Aber auch Kleidung, Stiefel und andere Ausrüstung wurde mitgenommen. Zwölf Stunden nach der Schlacht lagen immer noch wimmernde Sterbende im Feld. ... Viel wird über die Ausgelassenheit der Sieger berichtet, die nicht nur in Bergen, sondern auch in Frankfurt die Anwohner drangsalierten. Die Berger hatten zwar in ihren Kellern überlebt, wurden jetzt jedoch im Siegesrausch ‚bis aufs Hemd‘ ausgeplündert.“

 

Bis aufs Hemd ausgeplündert, nein, ich werde keine weiteren Anspielungen auf die heutigen Zeiten machen und auch nicht auf die künftigen Schuldenzeiten. Ich wollte Ihnen nur berichten, was einem Stadtschreiber so durch den Kopf gehen kann, wenn er in aller Unschuld, wie man so schön unschuldig sagt, ein Heimatmuseum besucht.

 

In den zwei Minuten, die ich noch im Amt bin als Stadtschreiber, werde ich es wohl nicht mehr erleben, dass der hessische Finanzminister mit dem edlen Namen Weimar seinen Hut nimmt und mit dem Hut wenigstens ein paar der verschenkten Millionen zurückbettelt. Aber ich wünsche Ulrich Peltzer, dass er das in seinem Jahr erlebt. Ich wünsche dem neuen Stadtschreiber ein Jahr mit guten Fern- und Feinblicken auf die Bankentürme, die Streuobstwiesen und die Marktstraße. A propos Marktstraße, mehrere Bürger haben mich gebeten, einmal öffentlich zu fragen, warum rasende Autos, keiner hält sich ja an die 30, die schönste Straße Bergens immer noch so unattraktiv und unwirtlich machen dürfen, als lebten wir immer noch in den sechziger, siebziger Jahren, als die Fußgänger und Einkäufer von Lärm, Gestank und Gefahr in die Flucht geschlagen wurden. Warum nicht 15 Kilometer pro Stunde und Einbahnstraße, außer für die Busse? Ich gebe die Frage an Sie weiter, lieber, geschätzter, umsichtiger Herr Ortsvorsteher.

 

Zum Schluss möchte ich mich ganz herzlich bei Monika Steinkopf, der deutschen Meisterin im Buchhandelswesen, und bei Adrienne Schneider bedanken, bei Frau Grebe und Frau Fink. Ich danke ebenso herzlich Herrn Netz, Herrn Reisen, Herrn Ulshöfer und, noch einmal, den anderen Jury-Mitgliedern. Und ich bedanke mich bei Ihnen allen, fürs Zuhören, heute und an anderen Tagen. Und hören Sie bitte mit ebensoviel, nein mit noch mehr Aufgeschlossenheit und Neugier Ulrich Peltzer zu, es lohnt sich. Denn, Sie erinnern sich an meinen Spruch von Goethe: „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei.“

 

(c) Friedrich Christian Delius

Antrittsrede: Ulrich Peltzer

Als ich mich fragte, über was ich heute reden könnte, fiel mein Blick, nachdem er eine Zeitlang herumgeschweift war: zum Fenster raus, über den Brillenrand an die Decke, wieder zum Fenster raus – aber da findet man natürlich nichts, meistens jedenfalls, wenn man ohne Vorgabe ein Thema sucht – fiel mein Blick auf ein Buch, das neben meinem Schreibheft lag, weil ich’s vor drei Wochen gerade las, Curzio Malapartes Die Haut, ein Roman … ein romanhafter Bericht über die Befreiung Neapels durch die fünfte US-Armee, der 1947 zum ersten Mal erschienen ist. Und sofort schoss mir der Satz durch den Kopf: Eines der schönsten Häuser der Welt ist die Villa Curzio Malapartes auf Capri. Da ich, je älter ich werde, immer weniger an Zufälle glaube, war es nur logisch, hier weiterzumachen, beziehungsweise, mit diesem Satz anzufangen, um zu sehen, wohin mich das führen würde. Zumal die bloße Erwähnung Neapels in diesem Zusammenhang, im Zusammenhang mit Malapartes Buch, wie das Buch selber – auf das ich dann, war mein Gedanke, zu sprechen kommen könnte - halb versunkene Areale meiner Interessen und meiner Erinnerung berührten, sie gleichsam wieder ans Licht holten, und zwar auf der Stelle - etwa die Erinnerung an eigene Versuche, die Stadt zu beschreiben, oder das kaum vergleichliche Bild zu schildern, wenn sich am frühen Morgen die fünf Inseln im Golf aus der Dunkelheit herausschälen - es also jenseits einer spontanen, dem Mangel geschuldeten Idee noch andere Gründe gab, genau so zu beginnen:

 

Eines der schönsten Häuser der Welt ist die Villa Curzio Malapartes auf Capri, der südlichsten dieser Inseln. Auf einem Felsen hoch über dem Meer gelegen, führt eine spektakuläre, die gesamte Rückseite des Hauses einnehmende Freitreppe aufs geländerlose Dach des zweigeschossigen, in einem mürben bourbonischen Rot getünchten Gebäudes. Das Dach ist groß genug, dass der Hausherr, dass Malaparte darauf Fahrrad fahren konnte – was, ob’s stimmt oder bloß Gerücht ist, zu jemandem passen würde, den exzentrisch oder extravagant zu nennen, keineswegs unangemessen wäre.

 

Obwohl ich bei meinem einzigen Besuch auf Capri das Haus nur von weitem gesehen habe – seltsam, so oft ich früher in Neapel gewesen bin, die ganze Zeit, bin ich außer diesem besagten einen Mal nie nach Capri gefahren, wo es im übrigen noch eine andere berühmte Villa gibt, die Ruine einer Villa, des Kaisers Tiberius nämlich, der sich im Jahr 27 von allen Staatsgeschäften zurückzog, um dort (als Lustgreis, behaupten böse Zungen) seine letzten Jahre zu verbringen -, obwohl ich also in Wirklichkeit die Casa Malaparte nur mal von weitem sah als einen rötlichen Fleck zwischen Pinien und Kakteen, ist sie mir - wie einigen von Ihnen vielleicht auch - durch einen legendären Film sehr vertraut geworden, der riesige Salon im Zentrum des Hauses, die dramatischen Ausblicke durch die asymmetrisch angeordneten Fenster auf das in Smaragdtönen schillernde Meer, die Terrasse, von der man über eine in den Felsen gehauene Treppe über hundert Stufen nach unten zum Wasser kommt.

 

Brigitte Bardot ging dort schwimmen, Michel Piccoli beobachtete sie dabei, während oben im Salon Jack Palance und Fritz Lang eine Kino-Adaption der Odyssee diskutieren, die Lang als Regisseur für Palance als Produzent bewerkstelligen soll. Und die ihm, dem Produzenten, natürlich zu wenig modern ist, mit zu geringem kommerziellen Potential, weshalb Michel Piccoli als Autor engagiert wurde, um das Drehbuch aufzupeppen; seine Film-Ehefrau, also Brigitte Bardot, brachte er auf Einladung von Palance, der als Amerikaner jedes Klischee von Hollywood erfüllt, zu den Verhandlungen mit – sie langweilt sich - wie könnte es anders sein - und hat hauptsächlich die Funktion, das Begehrenskarussell in Umlauf zu halten. Soweit in aller Kürze der Inhalt von Jean Luc Godards Le Meprís, Die Verachtung, ein wahrhaftig sprechender Titel, unter dem er 1963 das Filmemachen unter den Bedingungen eines unerbittlichen Marktes durchspielt. Ich weiß nicht, wie leicht oder wie schwer es für Godard und die Produktionsfirma war, eine Drehgenehmigung zu bekommen, Malaparte war seit sechs Jahren tot, aber die atemberaubende Kulisse seines Hauses auf dem Felsen, das Ineinander der Schönheiten von Natur und Architektur, bilden einen fast schon schreienden Kontrast zur Profanität der Geschäfte, um die es hier geht, nämlich darum, die Kunst, die Filmkunst, zur Hure des Business zu machen, allein zu dem Zweck erfunden, Geld in die Kassen von Produzent und Verleiher zu spülen. Dass man von der Geschichte gebannt ist, liegt selbstverständlich an der Geschichte, an Schauspielern und Regisseur, doch der Anteil, den der Schauplatz, die fabulöse Casa Malaparte, daran hat, darf gar nicht hoch genug veranschlagen werden.

 

Für das Booklet einer DVD-Edition von Le Meprís – es gab erschütternd wenig Honorar, aber oft hat man nicht die Wahl – habe ich vor einigen Jahren einen Text geschrieben, dessen letzter Absatz so lautet: „Kunst sagen, aber Ware meinen, und von Liebe reden, obwohl man lediglich ein finanzielles oder sexuelles Interesse verfolgt, sind die Seiten ein- und derselben Münze, die sich bis heute ihre Kaufkraft bewahrt hat. Wie es Godard gelingt, dafür Bilder zu finden, ohne sich der verranzten Dramaturgie eines Plots zu unterwerfen, mit welcher Leichtigkeit er Texte von Dante und Hölderlin in die Szenen schmuggelt, macht seine Verachtung zu einem der schönsten Filme, die je gedreht worden sind – ein einziges Versprechen darauf, dass es einmal eine Welt geben könnte, in der Träume so real sind wie das Leben, und das Leben ein für alle Realität gewordener Traum.“

 

Das mit dem ‚Plot’ und dem ‚verranzt’ würde ich so nicht mehr schreiben, der Rest, denke ich, ist nach wie vor gültig; gerade, was das Spannungsverhältnis zwischen dem Renditeverlangen, dem in der Regel abstrusen Renditeverlangen eines Kapitalgebers und artistischer Ambition betrifft. In allen Künsten, und eben auch in der, die ich gewählt habe, oder sie mich, wie man will, in der Literatur. Dazu wäre einiges zu sagen, aber … danach ist mir im Augenblick nicht, nicht heute, weshalb ich flugs wieder zu Malaparte zurückkehre, und zu seiner Hausikone auf Capri, die er einmal mit den folgenden Worten charakterisierte: „Una casa come me, triste, dura, severa“ : „Ein Haus wie ich, traurig, hart, streng.“

 

Ob es das wirklich ist, traurig, hart, streng, ich weiß nicht, mir scheint es sich eher um die Selbstbeschreibung eines Schriftstellers zu handeln, der in Leben und Werk zu Stilisierungen neigte, zu Aristokratismus und apodiktischen Urteilen, die jedoch, und das kommt weniger häufig in der Literaturgeschichte vor, luziden Einsichten durchaus nicht im Wege standen. Ob sein Satz: „Neapel ist die Zukunft Europas“ dazu gehört, entweder als apodiktisches Urteil oder als luzide Einsicht, will ich nicht entscheiden, der Satz findet sich in seinem Buch La Pelle, Die Haut, jenes auf meinem Schreibtisch in Berlin, in dem er die Befreiung der Stadt durch alliierte Truppen schildert, und das ärmliche, das miserable Leben unter der neuen Herrschaft; dass Die Haut nicht nur vom Vatikan sofort nach Erscheinen auf den Index gesetzt, sondern Malaparte auch vom damaligen Bürgermeister Neapels mit einem Bann belegt wurde, spricht jedenfalls nicht gegen ihn, als Autor. Ein Autor, dessen Biografie die politischen und ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts auf singuläre wie exemplarische Weise widerspiegelt, und - in seinen journalistisch-literarischen Arbeiten - auf eine Weise exponiert, die ihm umgehend jede Menge Ärger mit den Regimen und Machthabern eines Zeitalters eintrug, das der englische Historiker Eric Hobsbawm sehr zu recht das der Extreme nannte.

 

1898 geboren, war Malaparte Freiwilliger im ersten Weltkrieg, ein paar Jahre Faschist, einer der bekanntesten Journalisten zwischen Mailand und Palermo, Herausgeber avantgardistischer Literaturzeitschriften, als Verbannter auf den liparischen Inseln, Jahre unter Hausarrest, dann Korrespondent an der Ostfront, von wo er erschütternde Berichte schickte, die unter dem Titel: „Die Wolga entspringt in Europa“ wohl noch herauskamen, dann aber eilends konfisziert wurden, schließlich Verbindungsoffizier, so Malapartes eigene Fama, bei der fünften US-Armee. Jener Armee, die Neapel unter tatkräftiger Hilfe der Bevölkerung befreit hat. In dieser rhapsodischen Form der Darstellung wird man seiner Exzentrik nicht ganz gerecht – Exzentrik nicht als Dandytum um seiner selbst willen verstanden, sondern als politische, gelegentlich fragwürdige, politische und ästhetische Konsequenz – nur noch soviel: Schon 1931 hat Malaparte nach einem ersten Besuch in der Sowjetunion ein Buch veröffentlicht, das einigermaßen herausfordernd. Die Intelligenz Lenins hieß, wie er zuletzt testamentarisch verfügte, dass sein Haus, die Casa Malaparte, nach seinem Tod an die Volksrepublik China fallen sollte – was die Erben allerdings erfolgreich angefochten haben.

 

Als ich vorhin Exzentrik sagte, hätte ich auch Nonkonformismus sagen können, gepaart mit dem Mut, dem Grauen des Jahrhunderts ins Gesicht zu blicken und Irrtümer durch eine veränderte Praxis einzugestehen, dabei immer auf der Seite avanciertester Positionen, der von Joyce, Pound und Éluard etwa, deren Texte er früh in seinen Zeitschriften publizierte. Insofern ist es nicht auszuschließen, hätte es ihm womöglich gefallen, dass ausgerechnet Godard sein Haus als Hintergrund für einen Film wählte, in dem es unter anderem darum geht, wie man seine künstlerische Integrität bewahrt unter den Gesetzen kapitalistischer Verwertungslogik, das heißt, unter dem einzigen Gesetz, das sie kennt: Aus Geld mach mehr Geld. Wozu man die Kunst, die Filme und Bücher derartig aufzubereiten hat, dass ein – notorisch unterschätztes - Publikum auch dann an ihnen Gefallen finden könnte, wenn man sie für zu hart, zu streng, zu traurig hält. So verlangte Carlo Ponti, der Produzent der Verachtung, vom Regisseur Godard nachträglich ein paar Nacktaufnahmen von Brigitte Bardot zu drehen, weil er befürchtete, dass es ohne schwierig werden würde an der Kinokasse – damit hatte er einerseits recht, andererseits verkannte er völlig, was mit seinem Kapital da hergestellt worden war, einer der größten Filme der letzten fünfzig Jahre.

 

Über fehlende Aufmerksamkeit brauchte Malaparte sich nie zu beklagen, er erregte Anstoß und provozierte, weniger aus Selbstzweck, wie klar sein sollte, oder wie ich zumindest glaube, sondern um den Kern einer Sache, eines Vorgangs, eines Phänomens offenzulegen. Wobei er in La Pelle, der Haut, wie in seinen anderen Büchern über den Krieg und die Folgen des Krieges, vor keinem Detail des Ungeheuerlichen zurückschreckte, es vielmehr ausbreitete bis an den Punkt, wo man nicht weiterlesen will; das wurde als skandalös empfunden, nicht allein vom Vatikan und der Neapolitaner Stadtverwaltung. So skandalös wie schon der eigentlich harmlose Titel des Buches, Die Haut, hinter dem sich Malapartes Überzeugung, die letzten Endes defätistische Überzeugung verbirgt, dass das Vaterland des Menschen seine Haut sei, die einzige Grenze, die er hat und die er nicht überschreiten kann. „Unser wahres Vaterland“, schreibt er anlässlich der Beerdigung eines brutal zu Tode Gekommenen, „unser wahres Vaterland ist unsere Haut.“ Was eben bedeutet, sich von Fahnen, die irgendwer schwenkt, nicht Dienstverpflichten zu lassen, und schon gar nicht, hinter ihnen herzurennen.

 

Warum mich die Lektüre Malapartes, besonders von La Pelle, so eingenommen hat, neben dem literarischen Reichtum und der Überdrehtheit dieses Textes, hat aber, wie ich zu Anfang sagte, noch andere Gründe, und noch andere als die, ich bereits nannte: Im Januar war ich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder in Neapel, und vor knapp einem Monat, während ich den Roman las, habe ich nach mehr als zwei Jahrzehnten einen alten Freund aus Neapel wieder getroffen, Arturo, dem ich viel verdanke und der mich in die Stadt – sozusagen - eingeführt hat. Eine Postkarte aus dem Nichts, aus Chiapas in Mexiko, wo er sich gerade - wer weiß warum - aufhielt: Ich komme Mitte August mal nach Berlin, bist du da?

 

Jemandem, dem man sehr verbunden war, nach so langer Zeit wieder zu begegnen, ist ja oft eine etwas zwiespältige Sache, man freut sich, und befürchtet zugleich, dass man den anderen nicht mehr erkennt, weil die Jahre ihre Spuren hinterlassen haben, manchmal Spuren der Verwüstung, die einen recht unerfreulich auf das eigene, auch schon fortgeschrittenere Alter verweisen, aber … so war es bei ihm Gottseidank nicht, derselbe wie früher, zwar etwas kräftiger geworden - was ich sagen darf, weil er es selbst sagte - und angegraut mittlerweile, wie ich, doch sonst unverändert, ein mitreißend quecksilbriger - mir fällt kein besseres Wort ein - taugenichtsig lebendiger Teil meiner Vergangenheit, der immensen Faszination, die die Stadt vom ersten Moment an auf mich ausgeübt hat. Eine Faszination, die sich im Januar sofort wieder einstellte, wie auch bei der Lektüre Malapartes im letzten Monat - warum ich so lange nicht dort war, ist eine andere Geschichte – sich wieder einstellte als eine Folge von Sehnsuchtsanfällen, die durch einen Straßennamen ausgelöst wurden, dieses und jenes Gebäude, das in Die Haut erwähnt wird, durch Malapartes emphatische Beschreibungen des Volkes von Neapel – vielleicht der einzige Ort Europas, wo der Begriff heute noch zu verwenden ist -, seiner Leidenschaften, seiner Sprunghaftigkeit, seiner Wärme und Theatralik.

 

In den ersten Tagen, die ich in Neapel war, im Februar 1982 - überall sah man noch die Spuren des schweren Erdbebens, das anderthalb Jahre zuvor die Region erschüttert hatte, viele Häuser wurden von Gerüsten gestützt: eines Morgens kam Arturo aufgeregt in mein Zimmer und rief: Terremoto, terremoto, aber es waren nur zwei kleinere Erdstöße gewesen, die ich im Halbschlaf kaum wahrgenommen hatte, so ein merkwürdiges Wackeln des Bettes – in diesen ersten Tagen, wie auch später immer wieder, erlebte ich Szenen auf der Straße, im Bus, mit den Freunden und Bekannten in Bars, vor Bars, auf nächtlichen Plätzen, die bei mir den unwiderstehlichen Impuls auslösten, sie zu notieren, so einzigartig erschienen sie mir, so unvergleichlich, und - so fremd auch. Zum Beispiel dieses Minidrama am Stand eines ambulanten Fischhändlers, der mit einer älteren Kundin über die Frische seiner Muscheln in Streit geraten war und wie ein Schauspieler an der Rampe irgendwann anfing, der sich um sie herum versammelnden Menge einen gestenreichen Vortrag über: erstens die Qualität seiner Produkte, und zweitens: die Härte seines Lebens zu halten, was am Ende dazu führte, dass sich die beiden, Händler und Kundin, unter dem Applaus der Leute umarmten.

 

Der Roman, mein erster, den ich damals anfing zu schreiben, hatte zwar mit Neapel nichts zu tun, er spielte in Berlin, aber die Eindrücke dieses Neapel schoben sich immer wieder über die Arbeit, das Leben überhaupt, so dass ich erst ein Jahr später an dem Buch weitergearbeitet habe, wirklich ernsthaft und bis zum Schlusspunkt. Jedoch immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, die Stadt einmal auftauchen zu lassen, etwas von dem, was mir dort widerfahren war, oder von dem ich gehört hatte, zu erzählen. Wozu man sich eine Handlung ausdenken muss, die das möglich macht, am besten noch poetologisch sinnvoll begründet – was ich jetzt nicht weiter ausführe – an der richtigen Stelle im Buch und in einem stimmigen Ton. Ob’s mir gelungen ist, müssen andere entscheiden, hier ist eine Passage, in der ich es versucht habe, aus der Erzählung Bryant Park:

 

„Der kleine Kellner aus der Bar Aegidius an der Piazza Amendola, der eine viel zu große weiße Jacke mit umgeschlagenen Ärmeln trug, beziehungsweise kein Kellner, sondern eine Art Laufbursche, der auf einem Blechtablett Plastikbecher mit Café über die Straße in umliegende Büros und Ladengeschäfte brachte, leere Flaschen und Gläser einsammelte, die draußen trinkende Gäste auf einem der mehrspurig die Fahrbahn zuparkenden Autos, einem Fenstersims oder dem Bürgersteig abgestellt hatten, machte irgendwann einmal vor mir Halt – ein kaum zehnjähriger Junge – und musterte mich eindringlich, als überprüfe er einen Gedanken, der ihm schon seit einiger Zeit durch den Kopf ging, um dann etwas für mich Unverständliches zu sagen, das bei Edoardo und den anderen Schmunzeln hervorrief, lautes Gelächter, als er nämlich auf die Nachfrage Fillipos hin im treuherzigen Ton eines Kindes wiederholte, ich sähe aus wie Graf Dracula, müsse es selber sein oder sein Zwillingsbruder (übersetzte man mir glucksend), und er habe Angst, wirkliche Angst, ich würde ihm sein Blut rauben. Edoardos pädagogisch-geografische Erläuterung, Dracula käme aus Rumänien, fern im Osten, ich aber aus Germania – verstehst du Kleiner, ein ganz anderes Land -, schien ihm nicht einzuleuchten, denn fortan schlug er einen weiten Bogen um mich und die Gruppe, die neben dem Eingang stand, Agnése noch, eine der beiden Schwestern Edoardos, besagter Fillipo, ein arbeitsloser Architekt, und natürlich der vollgeschossene Dario und seine französische Freundin Marina, die unter einem schamlos kurzen und engen Kleid schwarze Strumpfhosen voller Laufmaschen trug.

 

Die Bar Aegidius hatten wir in der Stadt zuerst angesteuert, das heißt Edoardo, der den Wagen zielsicher durch das Gewühl überfüllter Straßen lenkte, eine nachmittägliche Konfusion von Maschinen und Menschen und blinkenden Zeichen, die auf keiner Ebene eine Möglichkeit der Verständigung, eines rationalen Austauschs zu finden schienen, sondern in jedem Augenblick jede Situation neuerlich klären mussten, hupend und fluchend und schimpfend und drohend und schreiend in einer Form geschmeidiger Rücksichtslosigkeit, die fast schon bewundernd (wenn auch Obszönitäten ausstoßend) hinnahm, dass jemand anders cleverer gewesen war, sich in eine Lücke gedrängt, einen selbst aus der Spur geworfen hatte

 

(versuch mal, in Neapel eine breite Straße zu überqueren, das von Abgasen umnebelte Tunnelloch der Galleria della Vittoria, entweder wartest du bis ans Grab oder du marschierst erhobenen Armes einfach drauf los in den dröhnende Verkehr, um das praktisch unbegreifliche zu erleben: die halten tatsächlich an, lassen dich auf beiden Seiten der mittleren Betonbarriere passieren, als gingst du schlafwandelnd durch die sich teilenden Fluten des Roten Meeres – und das ist mehr oder weniger eine Autobahn da -, erreichst das jenseitige Ufer ohne Schrammen oder weiteren Schrecken).

 

Nach ein paar Bieren, deren Wirkung die im Lauf des Tages geschluckten Tabletten neutralisierten, brachen Edoardo und ich wieder auf, eine Kassette der Beasty Boys im Rekorder, am glitzernden Meer entlang Richtung Posillipo.“

 

 

Der Hügel von Posillipo liegt genau am anderen Ende der Bucht, genau gegenüber von Capri und dem Vesuv, im Halbkreis dazwischen die Stadt und der Hafen mit den Fähren und den Schnellbooten der contrabbandiere, die die unverzollten Zigaretten auf hoher See laden und sie zu Zwischenhändlern wie dem alten Gennaro bringen, der sie nachts - das war 1984 - in einem Körbchen aus seiner Wohnung herunterließ, nachdem man hoch gerufen hatte, welche Marke man will und die entsprechende Geldsumme in das Körbchen legte - was noch so eine Geschichte aus Neapel ist, wahrscheinlich nur dort beheimatet sein kann, und ein anderes Mal in allen Einzelheiten erzählt werden muss – weil - ich für heute ans Ende komme, unweigerlich, wobei ich mich frage, warum ich von der Feststellung aus: „Eines der schönsten Häuser der Welt ist die Villa Curzio Malapartes auf Capri“ schließlich beim Zigarettenschmuggel gelandet bin. Ob’s was mit dem Satz Malapartes: „Neapel ist die Zukunft Europas“ zu tun hat? Und Zukunft und Schmuggel sich in meinem Unbewussten irgendwie vermengen - keine Ahnung.

 

Da ich aber, wie ich zu Anfang sagte, an Zufälle immer weniger glaube, wird es schon seine innere Richtigkeit haben. Zumal, das ist jetzt mein Eindruck, die Dinge zur Sprache gekommen sind, die mich nicht nur im Augenblick, sondern grundsätzlich interessieren. Moral. Das Verhältnis von Kunst und Geld, der Umgang mit Macht. Freundschaft. Schönheit. Integrität. Mäandernd, wie die Erinnerung und das Denken nun einmal funktionieren, wenn man sie zu nichts zwingt. Wenn man Nebenwege zulässt, die einen an unerwartete Orte führen. Wie die sich schier endlos verzweigenden Gassen in Neapel, jenem Prototyp von Stadt, in dem man sich - wie es zu sein hat - zuerst verlieren muss, um sich verändert wiederzufinden. Glücklicher.

 

 

Meine Hoffnung ist, liebe Bergen-Enkheimer, dass Sie durch das, was ich gerade gesagt habe, ihren neuen Stadtschreiber ein wenig besser kennen lernen konnten, über das hinaus, was sonst noch in seinen Büchern steht. Vor allem Ihnen, aber natürlich auch der Jury, die mich in ihrem Auftrag ausgewählt hat, möchte ich ganz herzlich danken für die Ehre dieses Preises, das Privileg der mietfreien Wohnung und die üppige Donation, die auch noch dazu gehört – als eine Einzigartigkeit, die heute abend gefeiert werden sollte, vielen Dank.

 

(c) Ulrich Peltzer

Festrede: Heribert Prantl

„Bleiben Sie wachsam, meine Damen und Herren“. Bleiben Sie wachsam: Mit diesem Satz endet die Eingangsszene in Ulrich Peltzers jüngstem Roman. Unser neuer Stadtschreiber schickt am Anfang des Buches vier junge Leute maskiert und kostümiert ins Sony Center am Potsdamer Platz in Berlin. Die kleine Truppe spult dort eine gekonnte Protestnummer ab, mit der sie die Touristen auf die umfassende Video-Überwachung aufmerksam machen. Kameras sind überall, beobachten jede Regung, zeichnen alles auf, speichern alles – und bei irregulärem Verhalten, sei es Betteln, Protestieren oder Musizieren, greift der Sicherheitsdienst ein.

 

Dieses Sony-Center ist ein Legoland der Überwachung – ein Abbild des Deutschland, wie es sich die Innenminister vorstellen; ein Abbild der EU, die Sicherheitsexperten als ihren „Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit“ konzipieren: Das „Recht“ dort ist das Hausrecht der Regierenden; die „Sicherheit“ ist die Sicherheit, dass nichts unkontrolliert bleibt; und die „Freiheit“ ist die Freiheit von Kriminalämtern und Geheimdiensten, zum Schutz vor dem Terror umfassend in die Freiheits- und Bürgerrechte einzugreifen – mit heimlichen Computer-Razzien, mit Lauschangriff, Videoüberwachung, Maut- und Gendatensammlung, mit Telefonüberwachung und digitalem Gesichtsabgleich. Das alles wird schon praktiziert. Niemand hier in diesem Zelt kann sich gewiss sein, dass sein Telefon nicht abgehört, dass seine Bankkonten und seine E-Mails nicht kontrolliert werden. Wann sind solche Eingriff zulässig? „Praktisch immer“, sagt Jürgen Kühling, der frühere Bundesverfassungsrichter und Polizeirechtsexperte. Und seit 2002 hat praktisch niemand mehr auf der Welt eine Auslandsüberweisung vornehmen können, ohne dass sein Name und die Adresse des Empfängers, Kontonummer, Verwendungszweck und besondere Hinweise bei der Polizei gelandet sind.

 

Nicht wenn es morgens um fünf Uhr an der Tür klingelt, schrieb Bertolt Brecht, sei der Mensch beunruhigt, sondern wenn er nicht sicher sein könne, ob es tatsächlich der Milchmann ist. Milchmänner gibt es nicht mehr, die Milch steht heute, mit Frischegarantie, bei Aldi. Und es klingelt nicht mehr unbedingt, wenn der Staat kommt. Er ist nämlich schon da, er versucht es jedenfalls immer mehr und immer intensiver. Noch 1990 hätte man es für absurd gehalten, was heute auf europäischen Flughafen geschieht: Dass Fluggäste mit „Nackt-Scannern“ elektronisch bis auf die Haut durchleuchtet werden. Oder dass der Kontrolleur beim Einchecken das Baby in der Tragetasche aus dem Schlaf reißt, um dessen Augenfarbe mit derjenigen zu vergleichen, die in einem Kinderpass eingetragen ist.

 

Im Haus von Bundesinnenministers bezeichnet man das als „präventive Wende“. Das Strafrecht, das Recht, das auf Taten, also auf Vergehen und Verbrechen reagiert, interessiert seit dieser Wende nicht mehr besonders. Man braucht das Strafrecht nicht mehr um zu strafen, man braucht es in erster Linie, um dessen Machtmittel im Vorfeld einzusetzen: um Gefahren abzuwenden, und wenn noch gar keine konkrete Gefahr vorliegt, dann reicht eine abstrakte, und wenn auch die nicht gegeben ist, dann reicht es, wenn sie droht oder wenn sie drohen könnte. So wandelt sich der klassische Rechtsstaat um in einen Präventionsstaat.

 

Ein Präventionsstaat will wissen, was die Menschen reden und denken, mit wem sie kommunizieren, wo sie sich aufhalten, was ihnen eigen ist, wer sie sind. Also hört der Präventionsstaat Telefonate ab, belauscht er Wohnungen, speichert Bilder, greift auf Telefon- und Internet-Verbindungsdaten zu, ortet Personen mit dem satellitengestützten Navigationssystem GPS, verfolgt ihre Wege mit Autokennzeichen-Scanning, taxiert er sie nach biometrischen Merkmalen. Ein Präventionsstaat weiß nie genug; seine Logik ist expansiv. Je weiter eine konkrete Tat entfernt ist, umso mehr ist dem Staat erlaubt, sie zu verhindern. Das ist die gefährliche Grundregel der neuen Prävention.

 

Die Kontrollbedürfnisse entwickeln sich mit den Fortschritten der Informationstechnologie. Die Erfassungsnetze, die alle Bürger umfassen, werden immer dichter, die beobachtungsfreien Zonen werden immer kleiner, der Rechtsstaat wird immer nackter. Der Mensch wird zum Beobachtungsobjekt. Wenn sich dann ergibt, dass der so Beobachtete, Registrierte, Belauschte und Geprüfte nicht gefährlich ist, wird er kurzzeitig wieder zum Bürger. Bis dahin gilt jeder Einzelne als potentiell verdächtig. Und nachher ist er es gleich wieder: die Kontrollen gehen ja weiter. Bis zur präventiven Wende war das anders: Wer keinen Anlass für staatliches Eingreifen gab, wurde einfach in Ruhe gelassen. Jeder konnte also durch sein eigenes Verhalten den Staat auf Distanz halten. Man nannte das Rechtsstaat. Wer diesen Rechtsstaat festhalten will, der muss an dem alten Motto festhalten: Recht sichert Freiheit. Wir erleben derzeit aber die Aufweichung und Auflösung des Rechts im Namen der Sicherheit. Von Notwehr wird geredet, von Ausnahmezustand. Wer wird den Mut haben, Bedenken anzumelden, wenn die Pläne Gesetz werden, die schon auf der Wunschliste der Terrorbekämpfer stehen: Internierung von Terrorverdächtigen, Internetverbot und Handyverbot, Tötung von Top-Terroristen ... ?

 

Gegen die Optimierung der Anti-Terror-Dateien hat niemand etwas. Wenn aber im Zuge solcher Optimierung die Notizbücher von Polizei und Geheimdiensten zusammengeworfen werden, wenn keine rechtsstaatliche Kontrolle bei der Verwendung von Geheimdienstdaten stattfindet, wenn Informationen über Personen gespeichert werden dürfen, die nur zufällig Kontakt mit Verdächtigen oder Gefahrpersonen hatten, wenn bloße Religionszugehörigkeit dazu führt, dass einer als Terror-Unterstützer gespeichert wird – dann wird aus der Optimierung der Anti-Terror-Datei ihre Pervertierung. Eine Anti-Terror-Datei ist nicht per se gut; sie muss sensibel geführt und klug kontrolliert werden.

 

„Bleiben Sie wachsam, meine Damen und Herren“ – ruft uns die kleine Protestgruppe aus Peltzers Roman zu. Wachsam „bleiben“? Nein, das ist falsch. Wir, die Bürger, waren nicht wachsam. Wir müssen also nicht wachsam „bleiben“, sondern erst wieder wachsam werden. Die Staatswache, die in der staatliche Aufrüstung gegen den sogenannten Feind besteht - früher hieß er Ostblock, dann Asylant, dann Organisierte Kriminalität, jetzt heißt er Al Kaida - diese Staatsaufrüstung hat die Wachsamkeit und die Sensibilität der Bürger für ihre Freiheitsrechte verkümmern lassen. Spätestens seit dem 11.September 2001 haben sich, wie das Winfried Hassemer, der Frankfurter Strafrechtsprofessor sagt, „Staat und Bürger untergehakt“. Seit Jahrzehnten, seit den Zeiten der RAF, werden Freiheitsrechte eingeschränkt, die Sicherheitspakete werden immer größer, immer gewaltiger. Welchen Gewinn an Sicherheit hat uns das eigentlich gebracht?

 

Grundsätze, die jahrzehntelang als eherne Grundsätze gegolten haben, gelten nichts mehr: Zu diesen Grundsätzen zählte es, dass erfolterte Informationen tabu sind. Aber mittlerweile gilt der Satz „olet nolet“ auch für Informationen und Daten: Im „Kampf“ gegen den Terrorismus stinken Daten ebenso wenig wie Geld, egal, ob sie aus den Foltergefängnissen der CIA oder von den Militärspitzeln Pakistans stammen. Erfolterte Daten, die etwa in den USA in den internationalen Kreislauf der Sicherheitsdaten gelangen, werden sozusagen gewaschen wie das Geld der Mafia – und sind international verfügbar: so wie die Daten von harmlosen Flugpassagieren, welche die CIA oder die US-Heimatschutzbehörde aus irgendwelchen Gründen für verdächtig hält. Die Personen, zu denen diese Daten gehören, werden den falschen Veracht nicht mehr los.

 

Aber: Der Bürger fürchtet den Terrorismus und seine Ängste werden von Politik und Medien generiert, multipliziert und potenziert – und also hält der Bürger die Generalermächtigung für den umfassend kontrollierenden und heimlich eingreifenden Staat für das geringere Übel. Der frühere Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem hat darauf hingewiesen, dass der Straßenverkehr sehr viel mehr Opfer fordert als der schlimmste Terrorismus. Der Hinweis zielt darauf, dass ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden muss, welches Maß an Unsicherheit in Kauf genommen werden soll, um das erwünschte Maß an Freiheit zu erhalten. Die Verteidiger eines „Grundrechts auf Sicherheit“ arbeiten mit worst-caste-Szenarien: Sie berufen sich, im Ansatz richtig, darauf, dass ohne Grundsicherheit auch Freiheit nicht sein kann. Wer, etwa in Somalia, noch nicht einmal Brot einkaufen kann, ohne Opfer eines Heckenschützen zu werden, wird selbstverständlich Sicherheit für den obersten Wert halten. Aber wer so ein Beispiel aufruft, vergisst, dass wir glücklicherweise nicht in Somalia, dass wir nicht in einer solchen zusammengebrochenen Ordnung leben. Wer trotzdem den völligen Zusammenbruch der Ordnung als terroristische Gefahr an die Wand malt, um darauf einen unerklärten dauernden Ausnahmezustand zu stützen, ist ein Putschist.

 

Werden Sie wachsam, meine Damen und Herren. Als vor 17 Jahren Münchner Flughafen eingeweiht wurde, ging der damalige Ministerpräsident Max Streibl der neue mit den Journalisten stolz und beseelt durch die großen Hallen. Alles war blitzblank, weitläufig, weltläufig und edel; am Boden glänzte der polierte Granit, an den Wänden prangte moderne Kunst, aus den Lautsprechern klangen die Weltsprachen. Als die Besichtigung nach zwei Stunden zu Ende war, fragte ein Journalist den Ministerpräsidenten, ob er in all dieser Pracht und Herrlichkeit etwas vermisse. Der Ministerpräsident stutzte kurz und sagte dann: „Es ist alles wunderbar, nur: Wenn man hier ankommt, merkt man doch gar nicht, dass man in München ist. Es könnte sich genauso um den neuen Flughafen in Paris oder in Melbourne handeln. Woran soll man denn hier erkennen, dass man in München gelandet ist? “ Ein Kollege schlug ihm daraufhin vor, man könne doch die nächste Landebahn „in Brezenform“ errichten. Das Gelächter war groß.

 

Sie schauen mich jetzt mit großen Augen an und fragen, warum ich Ihnen diese Geschichte hier in Frankfurt erzähle. Warum erzähle ich Ihnen dieses Kuriosum? Wenn man dieser Geschichte nachhört, dann klingt hinter der Lustigkeit der Begebenheit und der vermeintlichen Provinzialität des Politikers etwas sehr Ernsthaftes, Wichtiges, Grundsätzliches. Diese Geschichte führt uns nämlich zu einer Frage, die für einen Rechtstaat noch viel, viel wichtiger ist als für einen Flughafen: Was ist das Besondere, was ist das Erkennungszeichen, das ganz Unverwechselbare, das Kostbare an dem Staat, den das Grundgesetz, das Bundesverfassungsgericht und die Zivilcourage der Bürgerinnen und Bürger geschaffen haben? Es ist - unter anderem, aber vor allem - das Bewusstsein, dass Recht Freiheit sichert. Es ist das Bewusstsein, das der Staat nicht alles darf, dass ihm Grenzen gesetzt sind, die von den Grundrechten markiert werden. Dieses Bewusstsein hat das Land geprägt.

 

Aber es gibt neue, schädliche Prägekräfte – den Terrorismus. Der Guerillero besetzt das Land; der Terrorist besetzt das Denken. Die Befürchtungen, dass Al Kaida in Atomkraftwerke und Wasserversorgungsanlagen eindringt, haben sich glücklicherweise nicht realisiert. Al Kaida ist aber in die staatlichen Apparate und Braintrusts, sie ist in die Gesetzgebungsorgane eingedrungen, Al Kaida ist überall dort, wo Gesetze gemacht werden. Und Al Kaida hat das Denken der Menschen besetzt, die diesen Gesetze unterworfen sind – mit der Folge, dass alle staatliche Maßnahme, so sie nur mehr Sicherheit versprechen, Billigung findet.

 

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat die clausula rebus sic stantibus, die Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage, auf das deutsche Recht angewendet: Zur Begründung, weshalb die Verfassung der neuen Sicherheitslage und den „veränderten gesellschaftlichen Bedingungen“ anzupassen sei, stellte er fest: „Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949“. Sein Hinweis war als Hinweis auf ein vermeintliches Nachkriegsidyll zu verstehen, das im Grundgesetz seinen romantischen Ausdruck gefunden habe und dem die Richter des Bundesverfassungsgerichts in Verkennung heutiger Realitäten noch anhingen. Indes: Selbst ein verheerender Selbstmordanschlag islamistischer Terroristen wäre kaum annähernd mit den Schrecken zu vergleichen, die in den Jahren vor und nach 1949 zu ertragen oder zu befürchten waren.

 

Das Grundgesetz mit seinen Grund- und Freiheitsrechte ist nicht zuletzt deswegen so eindrucksvoll, weil es auf zitterndem Boden geschrieben worden ist und trotzdem gar nichts Zittriges, gar nichts Zaghaftes hat. Vor sechzig Jahren, in einer Zeit, in der es keine Sicherheiten gab, in der die Deutschen die Unfreiheit noch verinnerlicht hatten, brach der Verfassungskonvent mit dem überkommenen Staatsbild: Der Staat sollte von nun an der Freiheit seiner Bürger dienen, nicht umgekehrt der Bürger der Sicherheit des Staates. Und so schrieb man es auch in den Artikel eins des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. In der Endfassung des Grundgesetzes wurde daraus die neue Grundnorm: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Das war und ist keine Predigt, sondern geltendes Recht.

 

Hunderttausende von „Displaced Persons“ zogen damals durch die Städte, eineinhalb Millionen Flüchtlinge lagerten allein im kleinen Schleswig-Holstein; aber über ein Grundrecht auf Asyl wurde gar nicht lang debattiert, es war selbstverständlich angesichts der bitteren Erfahrungen, die man selbst mit Verfolgung und Abweisung erfahren hatte. Die Mordrate war in den unsicheren Nachkriegsjahren auf bis dahin ungekannte Höhen gestiegen; die Abschaffung der Todesstrafe wurde trotzdem ins Grundgesetz geschrieben. Die neue Kriegsgefahr, die Gefahr von Spionageakten und von Anschlägen war mit Händen zu greifen; doch über das Verbot der Folter wurde nicht eine Sekunde gestritten - weil man wusste, was passiert, wenn Demütigung zum Instrument staatlichen Handelns wird. Es saßen viele zuvor politisch Verfolgte in den Gremien, die das Grundgesetz vorbereiteten. Nie mehr später in einem deutschen Parlament war ihr Anteil so hoch.

 

In unsicherster Zeit also wurden Grundrechte geschaffen, die dann später, im sichersten Deutschland, das es je gab, wieder revidiert wurden: Erst war es das Grundrecht auf Asyl, weil das „Boot“ angeblich voll war; dann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, weil man angeblich sonst der organisierten Kriminalität nicht Herr werden konnte; heute ist es der islamistische Terror, dessen Bekämpfung Grundrechte angeblich im Wege stehen. Die Kirschen der Freiheit werden madig gemacht; die Festigkeit im Glauben an die Grundrechte ist verloren gegangen, es mangelt an Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Verfassung – die unsere Urgroßväter vor sechzig Jahren, in einer Zeit maximaler Unsicherheit, geschaffen haben. Die Sowjets hatten Berlin abgeriegelt, und diese Blockade, fast ein Jahr sollte sie dauern, galt, drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als Fanal für den dritten. Unter miserableren Voraussetzungen ist noch keine Verfassung geschrieben worden. Die dreißig Fachleute, die damals aus den zerbombten deutschen Städten der Westzonen zum Verfassungskonvent in die Idylle der Insel Herrenchiemsee kamen, haben sich an Martin Luther gehalten: Sie haben befürchtet, dass die Welt untergeht – und trotzdem das Bäumchen gepflanzt. Es war der Freiheitsbaum, den schon die ersten deutschen Demokraten wachsen lassen wollten, als sie 1832 das Hambacher Fest organisierten.

 

Die Pflanzaktion von 1949 war die erfolgreichste Pflanzaktion der deutschen Geschichte: Sorgsam wurden die Wurzeln gebettet: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Berufsfreiheit – Freiheit war das Zauberwort nach den Jahren der Unfreiheit, die Freiheiten waren Garantie und Verheißung. Anlässlich des 60. Jubiläums ist stolz dieser Baum besichtigt worden, der ein deutscher Stammbaum geworden ist; man hat seine Früchte gepriesen. Aber gleichzeitig wird der Boden, in dem dieser Baum wächst, mit giftigen Gesetzen gedüngt.

 

Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten – heißt es oft in den sicherheitspolitischen Debatten. Manchmal stimmt das tatsächlich. Von einer einzelnen Videokamera geht sicherlich keine Gefahr aus, von ein bisschen Spucke, die einem unschuldigen Menschen genommen wird, auch nicht; eine Speichelprobe zur Aufklärung eines Verbrechens muss man ja nicht jeden Tag abgeben. Und die Videokamera, die den öffentlichen Raum überwacht, springt zwar nicht herunter um zu helfen, wenn etwas passiert – aber sie kann immerhin für ein kleines Sicherheitsgefühl sorgen; und wenn mit den Bildern nicht Schindluder getrieben wird, kann die Kamera ganz sinnvoll sein. Es ist nicht automatisch der ein großer Rechtsstaatler, der neue Ermittlung- und Aufklärungsmethoden grundsätzlich für Unrecht hält. Wenn aber der Mensch fast überall mit staatlichen oder privaten Videokameras beobachtet wird, wenn diese zusammengeschaltet, und so Menschen gezielt erfasst und kontrolliert werden können, wenn mit Erfassungssystemen festgehalten wird, wo und wann sie welche Strassen benutzen, wenn die Daten ihrer Flüge registriert, ihre dortigen Essgewohnheiten festgehalten, ihre Computer elektronisch durchsucht, ihre Bankkonten staatlich visitiert, ihre Persönlichkeitsdaten, Krankheiten und Gebrechen zentral abrufbar werden, wenn gar Speichel- oder Blutproben zur Entschlüsselung und Speicherung des genetischen Code schon im Säuglingsalter abgenommen werden - dann ergibt sich die gefährliche Totalität aus der Summe.

 

Aus dem freiheitlichen Rechtsstaat wird so ein für sich sorgender, ein solchermaßen fürsorglicher Präventionsstaat. Im fürsorglichen Präventionsstaat sind die Grenzen zwischen Unschuldigen und Schuldigen, zwischen Verdächtigen und Unverdächtigen aufgehoben. Bisher hat das Recht hier sehr genau unterschieden, bisher hat es Beweise, konkrete Fakten gefordert, um jemanden verdächtigen zu können. Nun aber gilt jeder Einzelne zunächst einmal als Risikofaktor, jeder Einzelne muss es sich daher gefallen lassen, dass er ohne einen konkreten Anlass dafür geliefert zu haben, „zur Sicherheit“ überwacht wird. An die Stelle des konkreten Verdachts ist ein Anfangs-Generalverdacht getreten. Das rechtsstaatliche Freiheits-Versprechen „in dubio pro libertate“ war offenbar nur eine Schönwetterprognose. Nun sagen die meisten Innen- und Sicherheitspolitiker: „in dubio pro securitäte“. Indes: Der Bürger hat Anspruch auf ein Parlament und eine Regierung, die dieselbe Nervenstärke und dasselbe Rechtsbewusstsein haben wie die Richter in Karlsruhe. Und dazu den gleichen selbstbewussten Stolz auf unsere Rechtsordnung und den festen Willen zu ihrer Verteidigung.

 

Der freiheitliche Rechtsstaat ist in Gefahr, aber es wächst das Rettende auch. Siebzigtausend Bürgerinnen und Bürger haben sich in Deutschland als Befürworter einer Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung registrieren lassen, fünfundzwanzigtausend haben eine Prozessvollmacht unterschrieben. Einen solchen Ansturm hat das höchste deutschen Gericht noch nicht erlebt. Nun ist Quantität noch kein Indiz für Qualität. Aber das massenhafte Aufbegehren steht für ein neues Phänomen: Es gibt eine neue Sensibilität dafür, dass der Datenschutz nicht nur Daten schützt, sondern die Personalität und die Intimität. Die Sätze aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 gewinnen wieder Glanz: Das Grundgesetz, so steht es da, schütze den einzelnen Bürger „gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten“. Dieses Volkszählungsurteil lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Der Staat darf zählen, aber nicht schnüffeln. Die Richter wandten sich gegen eine Gesellschaftsordnung, „in der die Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“. Sie sollen nicht befürchten müssen, so heißt es weiter, dass „abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet und weitergegeben werden dürfen“.

 

Die Gesellschaft lässt sich diese Entwicklung nicht mehr länger widerspruchslos gefallen. Es wächst, da und dort jedenfalls, ein neues Grundrechtsbewusstsein: Der Widerstand gegen den politischen Verzehr der Bürgerrechte und den staatlichen Raub der Privatheit nimmt zu. Das ist die schönste Beobachtung, die man zum Grundgesetz-Jubiläum kann.

 

Die archaische Kultur von Minos hat dem Ungeheuer Minotauros alljährlich ihre Kinder geopfert, um so vermeintlich Sicherheit zu gewinnen. Eine demokratische Kultur, die ihre Prinzipien dem Terrorismus opfert, handelt nicht anders.

 

Bleiben Sie, werden Sie wachsam, meine Damen und Herren.

 

Dr.jur. Heribert Prantl leitet die Redaktion Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung

 

© Dr.jur. Heribert Prantl

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