Stadtschreiberfest 2010

Stadtschreiberfest 2010

Zeltreden

Stadtschreiberfest 2010

Abschiedsrede: Ulrich Peltzer

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gastgeber,

 

wahrscheinlich bin ich nicht der erste Stadtschreiber, und höchstwahrscheinlich auch nicht der letzte, der bei der Amtseinführung seines Nachfolger feststellt, feststellen muss: Wie schnell ist die Zeit, ist das Jahr hier bei Ihnen doch vergangen! In dem wunderbaren (und jetzt auch noch renovierten) Häuschen an der Oberpforte - so ein schönes Bad hätte ich auch gerne in Berlin -, und dazu mit einem Geldbetrag ausgestattet, von dem man mit Fug und Recht - und Dank sei Ihnen nochmals - behaupten darf: Beruhigt ungemein.

 

Sollten Sie sich fragen: was hat der Stadtschreiber in dem Jahr getrieben, zu was hat er es genutzt, so wäre zu antworten, dass er einerseits an einer Reihe von Vorlesungen saß, die er im nächsten Januar in Frankfurt halten wird (falls Sie da nichts besseres vorhaben sollten ...), und andererseits Skizzen schrieb, immer wieder Anläufe nahm, um den Ton, den Sound, den Groove eines neuen Romans zu finden; oder aber, das auch, er notierte sich Episoden, bestimmte Geschehnisse, manchmal selbst erlebt, manchmal nur irgendwo aufgeschnappt, die ihm - an einem verschwiegenen Bergener Abend - in den Sinn kamen, ohne dass er, also ich, wirklich schon genau gewusst hätte, was damit anfangen, zu welchem Zweck und Ende.

 

Eine dieser Kurz-, dieser Kürzestgeschichten handelt von Italien, einer Reise nach Rom, was mir, wenn ich Sie Ihnen jetzt - für den Anlass ein wenig umgeschrieben - vortrage, was mir einen Kreis zu schließen scheint zum letzten Jahr - vielleicht erinnert sich der ein oder andere -, als ich auch etwas von Italien erzählte, von Eindrücken, die für mich wichtig oder prägend genug waren, um sie irgendwann später einmal zu Fiktion zu machen. Zum Schluss dieses Jahres in ihrer Stadt also noch einmal der Süden, es geht um Literatur und Geld - was beides enger zusammenhängt, als man gemeinhin oft vermutet, Literatur, Geld, eine Stipendiatin, und - es beginnt mit einer Lüge, denn:

 

„Ich hatte gelogen, ich hatte gesagt, ich würde in Rom noch einmal recherchieren, ich würde mir noch einmal die Schauplätze ansehen, die im letzten Kapitel des Buches, an dem ich seit sechs Jahren schrieb, eine Rolle spielen sollten, obwohl es in Rom gar keine Schauplätze gab, Rom als Stadt im Text gar nicht auftauchte, wenn überhaupt, dann Neapel, der Hügel von Posillipo, der Hafen, das Lokal Sensemila, die Anlegestelle der Fähren nach Sizilien und auf die liparischen Inseln.

 

Aber das wusste ich allein, ich hatte, was jetzt keine Entschuldigung ist, ein - sehr - schlechtes Gewissen, weil es sich nicht um eine Ausrede, ein Verschweigen oder nur um eine unrichtige Ortsangabe handelte, sondern um einen offenen Betrug, eine Lüge mit Vorsatz, die meiner Angst entsprang, für klare Verhältnisse zu sorgen. Ohne Geld eine andere Wohnung zu suchen, redete ich mir ein, sei sinnlos, und zu gestehen, das heißt: sich selbst einzugestehen, dass eine Geschichte an ihrem Ende war, seit langem eigentlich, konnte ich nicht, beziehungsweise, konnte ich schon, ohne (zugleich) den Mut zu haben, die fälligen Konsequenzen zu ziehen.

 

Und außerdem der Roman (der Roman, der Roman, der Roman), in den ich soviel investiert hatte - handelte es sich nicht ausschließlich darum, ihn fertig zu schreiben, um welchen Preis auch immer?

 

Stets glaubte ich: eine Geldfrage, alles nur eine Sache des Geldes, das ich nicht besaß, halb verzweifelte, halb sehnsuchtsvolle Blicke auf die Fassaden von Häusern werfend, hinter denen ich Paläste vermutete, in denen sich einzurichten, sofern man über die nötigen Mittel verfügte, ein reines Vergnügen sein müsste. Oder, nein, zu hoch gegriffen, 1000 Mark im Monat, dachte ich, die aber fix, mehr bräuchte es nicht, für alles, endlich davon erlöst, nebenher arbeiten zu gehen, weiter in einem Kino Filme vorführen zu müssen, wie ich es tat, wenn es wieder Matthäi am letzten war, als geringfügig Beschäftigter wohl mit Krankenversicherung ausgestattet, doch - höheren Mächten, bzw. der Gesetzgebung sei Dank - vom Steuer-Zahlen befreit, einem nackten Mann griff auch das Kreuzberger Finanzamt nicht in die Tasche, versuchte es nicht mehr, nachdem ich glaubhaft nachgewiesen hatte, über keine sonstigen Einkünfte als dieses sporadische Filmvorführer-Entgelt zu verfügen, also praktisch nichts, niente, keine Ersparnisse, geschweige denn irgendwelche Zinsen von irgendwelchen (Liechtensteiner) Vermögen - wie ich trotzdem Monat für Monat über die Runden gekommen bin, ist mir heute ein, tatsächlich ein Rätsel.

 

Wahrscheinlich hatte mir meine Mutter Geld für die Reise geliehen, oder geschenkt, oder ich hatte es mir da und dort zusammengeborgt, dies und das verkauft, eine Kamera, einen kleinen Super-8-Schneidetisch, ein paar Bildbände, wir befinden uns im November 1994, bis genug beisammen war für eine Zugfahrkarte und kalkulierte vier Wochen Aufenthalt, Wohnen würde und konnte ich natürlich bei K., die ein Zimmer in der Nähe der Piazza Navona hatte, Stipendiatin des Staates Österreich, inwiefern dem Staat Österreich ein gewisser Dank abzustatten wäre dafür, in Rom eine Wohnung zu unterhalten, oder unterhalten zu haben, in der, neben den Begünstigten, auch für eine Reihe von Freunden, Geliebten etc. Platz gewesen ist, irgendwie ging das, zur Not schliefen die, die kein Bett hatten, dann in der Küche, im Flur, in der Dunkelkammer, im Maler-Atelier.

 

Ein weiß getünchtes Zimmer mit Bett und Tisch und Stuhl, das für zwei selbstredend zu klein zum Arbeiten war, kann ich auch gar nicht, etwas aufs Papier bringen – ich hatte zu der Zeit noch keinen Computer -, wenn ich nicht für mich bin, also ging ich, es herrschte oft strahlendes Wetter mit wolkenlosen, durchscheinend blauen Himmeln und Temperaturen um die zwanzig Grad, ging ich also tagsüber in einen winzigen Park, eher eine kleine Grünfläche an der Engelsburg, wo ich auf einer der Bänke meine Sachen ausbreitete, Notizbuch, Schreibheft und so weiter, eine Flasche Cola, oder ich suchte mir, falls es doch zu kühl war, einen Platz in einem der schlauchartigen Cafés in der Via dei Giubbonari, hintendrin, wo sie Tische hatten und man bei einem Glas Campari so lange bleiben konnte, wie man wollte. Außer mir saßen da meist dieselben Männer (in dem einen Café), tranken, unterhielten sich laut in ihrem völlig unverständlichen römischen Dialekt, schlossen Geschäfte ab, die unter anderem darin bestanden, dass ein Schwung Uhren von Hand zu Hand wanderte, bis jemand ein Bündel Lirascheine aus der Hosentasche zog und alle kaufte, oder Krawatten, dann brachte einer mal einen Ring mit, der in die Luft gehalten und begutachtet wurde. Ich schien sie nicht zu stören, über mein Heft gebeugt, ab und zu neugierig aufblickend, ich versuchte, das letzte Stück des Romans zu schreiben, eine nächtliche Zugfahrt nach Italien, die zusammenfließen sollte mit den Eindrücken früherer Reisen, die Stefan Martinez, der Titelheld, unternommen hatte, nach Hamburg, nach Prag, nach Westdeutschland, wie man die Bundesrepublik genannt hatte, in den goldenen Zeiten West-Berlins, das ganze Buch eine Art von Abgesang, auf eine Stadt, eine Jugend, eine bestimmte Existenzweise.

 

Abends gingen K. und ich oft in ein Restaurant in der Nähe, das Cul de sac hieß, Sack zu, dachte ich, obwohl der Sack, in dem mein Leben steckte, gerade wieder aufgeschnürt wurde, ausgesprochen preiswert, so dass wir uns Wein in Flaschen leisten konnten, Schinken, guten Käse, sogar Fisch gelegentlich, obwohl wir, um günstig Fisch zu essen, nach San Lorenzo fuhren, wo in der ersten Querstraße der Via Tiburtina, erste Querstraße vom Bahnhof aus gesehen, ein Lokal war, das ich durch E. kannte, die Mitte der achtziger Jahre, als sie einen Sprachkurs in Rom machte, nebenan gewohnt hatte, was ich K. aber nicht erzählte, vielleicht doch, ich erinnere mich nicht mehr. Details, die gestochen scharf hervortreten, während ich die Zwischenräume mit Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten auffülle, ich meine, auffüllen muss, um die Diskontinuität nicht zu groß werden zu lassen, die Sprünge, denn sonst verlöre man sich im Ungefähren, ein Floß ohne Ruder auf dem Meer der Unähnlichkeit.

 

Ich fuhr nach Berlin und kehrte drei Tage später zurück, vierundzwanzigstündige Bahnfahrten, auf denen mich mein Gewissen plagte, noch unfähig die Wahrheit zu sagen, getrieben von dem Wunsch, irgendwo fortzukommen, ohne zu wissen, pathetisch gesprochen, wo ich ankäme, wenn K. nicht gewesen wäre, alleine hätte ich das nicht geschafft, sie las mir Thomas Bernhard vor, auf dem Bett in dem weiß getünchten Zimmer liegend, ich ihr die Wahlverwandtschaften, beziehungsweise lasen wir uns das gegenseitig vor, Wittgensteins Neffe und Der Untergeher, Die Wahlverwandtschaften haben wir nicht zu Ende gebracht, Lachanfälle, die jede weitere Lektüre verunmöglichten. Damals. Am Beginn einer neuen Zeitrechnung, die, wenn es nicht so symbolisch wäre, ein berauschendes Sylvesterfest besiegelte, oder bestätigte, mit zwei Flaschen Sekt sind wir im einem Menschenstrom zur Piazza del Popolo gezogen, wo man auf die Kuppeln der beiden Kirchen am Ausgang zur Via del Corso riesige Bilder von berühmten Filmliebespaaren projizierte, während Dutzende elektrisch verstärkte Klaviere, die man irgendwie auf die Treppen zur Villa Borghese gestellt hatte, Filmmusiken spielten, die alle kannten, die Tausende von Menschen, die den Platz füllten, bis es um Mitternacht dann oben im Park ein Feuerwerk gab, das in strahlenden, funkelnden, sprühenden Farben, in Rot und Grün und Blau und Gold die Stadt illuminierte, gar nicht mehr aufhören wollte über den Köpfen der sich umarmenden, küssenden Menge. Die dann tanzte, ein einziger Körper von sich in den Armen liegenden Menschen, der zu den Klängen eines hinter der oberen Brüstung zum Park postierten Orchesters die ganze Piazza del Popolo, die in dieser Nacht die Welt war, in eine Drehung zu versetzen schien, alles drehte sich um uns wie ein gigantischer Kreisel, und wir, wir drehten uns wie von selbst einfach mit.

 

Vor fast genau sechzehn Jahren, und zu erzählen, was seitdem geschehen ist, würde nichts erklären, oder deutlicher machen, obwohl vieles inzwischen geschehen ist: man darf nicht die Unwahrheit sagen, man sollte ehrlich sein, und verbindlich, und freundlich, das weiß ich nun, unter allen Umständen, doch so fern es mir liegt, Belehrungen zu erteilen, so wenig glaube auch ich an die Kraft oder das Exemplarische des Anekdotischen, an etwas Universelles, sondern nur an die Kraft des Singulären, ans Werden, an den Augenblick, eine Berührung, eine Geste, einen Gedanken, der wie ein Blitz jede Düsternis zu erhellen vermag.

 

Ich sprach vom schlechten Gewissen, und davon, kein Geld zu haben. Was sich jetzt so anhört, als hinge das eine mit dem anderen zusammen. Zumindest in diesem Satz, in dieser Konstruktion. Aber es sollte keinen geben, einen Zusammenhang, doch - das Problem der Schuld, das sowohl im schlechten Gewissen steckt, als auch darin, ohne Geld zu sein, blank, und zwar gleichgültig warum, verbindet beides auf unheilvolle Art, stellt ein Tertium her, das nicht nur den Kapitalismus am Laufen hält. In der Form einer Verstärkung, oder als würde dieses durch jenes exkulpiert werden können, was natürlich ein ausgemachter Unsinn ist, von dem man sich befreien muss; die Rolle eines Zöllners seiner selbst sollte man nie einnehmen, sei es als Schriftsteller, sei es als jemand sonst. Vielleicht habe ich das damals gelernt, November, Dezember 1994, fällt mir jetzt - beim Schreiben - wieder ein, im Mittendrin einer Erinnerung, die Teil einer Geschichte ist, die - vielleicht - einmal zum Kapitel einer anderen Geschichte werden könnte, der Erzählung einer vierundzwanzigstündigen Zugfahrt, als man noch 24 Stunden Zug fuhr, um in Europa irgendwo hinzukommen.

 

Für heute abend lässt jedenfalls folgendes resümieren: ohne die Reise nach Rom hätte ich damals den Roman nicht abschließen können, aber DAS war keine Frage des Geldes, auch wenn es so aussah, sich einem so vermittelte, es war eine Frage der Liebe, wie letzten Endes sehr vieles, möglicherweise alles, und ob das nicht bloß eine romantische, eine, sagen wir, zutiefst bürgerliche Illusion ist, überlasse ich gern ihrem, der Zuhörer und der späteren Leser Urteil.

 

Herzlichen Dank Ihnen allen für die Zeit in Bergen-Enkheim.

 

© Ulrich Peltzer

Antrittsrede: Thomas Rosenlöcher

Die Antrittsrede von Thomas Rosenlöcher erschien als Buchhandelsausgabe:

 

Ich weiß das Land nicht zu finden : Die siebenunddreißigste Stadtschreiberrede von Bergen-Enkheim mit vier Fotografien von Markus Hintzen / Thomas Rosenlöcher.- Warmbronn: Keicher, 2011. – 22 S.; 23cm; Fadenheftung mit Schutzumschlag

Festrede: Robert Misik

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

ich möchte mich zunächst bei der Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim für die Einladung bedanken, hier diese Festrede halten zu dürfen. Und dann möchte ich natürlich Thomas Rosenlöcher gratulieren, der heute sein Amt – nennt man das so: Amt? – als Stadtschreiber von Bergen antritt. Dass ich ihn hier darüber hinaus nicht würdige und seine Bestellung nicht weiter anpreise ist keine Unhöflichkeit, ich habe mir sagen lassen, dass sich die Festredner hier nicht den Preisträgern widmen, sondern zu einem Thema ihrer Wahl sprechen sollen.

 

Ich habe mir lange überlegt, worüber ich hier denn reden würde wollen. Es gibt für solche Festreden ja Muster. Nicht Muster im Sinne vorgedruckter Formulare, wie man sie aus dem elektronischen Behördenverkehr kennt, in die man dann nur mehr Anrede, Aktenzeichen und konkretes Anliegen einfügen muss, deren weitgehende Formelhaftigkeit aber zu einem Copy-And-Paste-Verfahren einlädt. Aber doch Muster im Sinne von Vorlagen, von Modellen einer ordentlichen Festrede. Eine ordentliche Festrede ist etwa eine, die ein aktuelles Thema aufgreift, welches gerade in der aktuellen Diskussion ist, und zu diesem mutig, ---- wie sagt man gern in solchen Fällen? ---- provokant!, Position bezieht. Natürlich darf eine solche Festrede dann die aktuelle Debatte nicht in Ton und Duktus verdoppeln, um Gottes Willen, wir Intellektuellen, wir halten ja auf uns, also müssen wir uns selbstredend in unseren Formulierungen absetzen vom Sound des allgemeinen Gebrabbel, aber auch dafür haben wir unsere Muster parat. Ein Schuss ins Literarische, eine Prise Getragenheit, wenn gewünscht mit ein paar Tropfen Betulichem, schon ist die Festrede fertig, die unter anderen Umständen auch als Leitartikel durchginge. Wir könnten an dieser Stelle, wenn Sie mir diese Abschweifung erlauben wollen, durchaus ein paar selbstreflektierende Anmerkungen darüber einfügen, wie gerne wir doch die Formelhaftigkeit der heutigen Politikersprache kritisieren, mit ihrer Sound-Bite-Kultur und ihren vorgefertigten Hauptsätzen, die die Politiker in Mikrofone sprechen und die dann beim Publikum bei einem Ohr rein und beim anderen Ohr raus gehen und die die Bürger nicht mehr hören können, weil sie sich wünschen würden, dass endlich jemand in klaren Sätzen und auf gerade Weise über Probleme und deren Lösungen reden möge, und wir könnten hier eben die selbstreflektierende Frage aufwerfen, ob wir Festredner uns nicht ebenso feige an Vorlagen und Muster halten, nur dass wir uns dabei auch noch individualistisch und eigensinnig vorkommen. Ja, tatsächlich könnte ich locker eine Festrede halten, die das Institut der Festrede selbst zum Thema macht, in aller Ausführlichkeit könnte ich darüber reden, und es würde, gemessen an Rollenmodellen des Festredners, an die wir uns alle zu halten haben, bestimmt eine ordentliche Festrede werden.

 

Und sie merken wahrscheinlich schon, dass ich hier nicht nur selbstreferentiell Unbedeutendes über die Funktion der Festrede sage, sondern, auf Umwegen, also, wie ein möglicher Rezensent einer solchen Rede hoffentlich sagen würde, auf raffinierte Weise schon zu einem – brisanten – Thema komme (Themen, denen unsereiner sich annimmt, sind immer brisant): zu Konventionen, denen wir genügen wollen, selbst wenn wir scheinbar etwas Unkonventionelles tun, dass ich mich also anschleiche an die Problematik, die wir heute kaum mehr leugnen können, nämlich, dass heute auch das Unkonventionelle konventionell sein kann, dass wir sehr oft auch auf unkonventionelle Weise etwas Konventionelles tun und uns dabei dann sehr unkonventionell vorkommen. Als tolle Hechte.

 

Wenn ich also, um zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren, gesagt habe, eine ordentliche Festrede könnte ein Thema aufgreifen, das gerade die aktuelle Debatte bestimmt, was läge da beispielsweise näher, als sich den Thesen von Thilo Sarrazin zu widmen. Ja, tatsächlich spräche vieles dafür: Herr Sarrazin behauptet ja, die Zuwanderung von Muslimen mache Deutschland dümmer. Erstens, weil die Muslime genetisch eher zu den Dummies gehören. Und zweitens aus kulturellen Gründen, weil gute Schulleistungen etwa bei Türken und Arabern nicht sonderlich Prestigiös seien („ein kulturelles Problem“). Drittens käme noch hinzu, dass es auch innerhalb ethnisch-kultureller Communities eine Korrelation, einen „positiven statistischen Zusammenhang zwischen Intelligenz, sozioökonomischem Hintergrund und Bildungsgrad gibt“. Soll heißen: Nicht nur sind die Deutschen klüger als die zugewanderten Moslems, auch unter den Deutschen ist es so, dass die Gebildeten und Wohlhabenden – kurzum: die Oberschicht – genetisch klüger sind als die Unterschicht. Früher aber haben die Dummen weniger Kinder bekommen als die Klugen, weshalb sich der Genpool optimierte. Jetzt ist es andersrum: Ergo, wir vertrotteln, gewissermaßen. Das sagt Herr Sarrazin.

 

Herr Sarrazin führt also nicht nur einen neuen rassistischen Diskurs in die Zuwanderungsdebatte ein, sondern auch in die Bildungsdebatte. Wenn viele Muslime am Rande dieser Gesellschaft bleiben und den Aufstieg nicht schaffen – selber schuld, die sind einfach zu dumm dafür. Wenn die neuen Unterschichten unten bleiben und sich der niedrige Status der Eltern auf die Kinder vererbt, diese also als geborene Verlierer ins Leben gehen, dann ist das kein sozial- und bildungspolitischer Skandal, sondern logische Folge des Umstandes, dass sich die Dummen herausnehmen, sich zu vermehren und ihre bescheidene Intelligenz zu vererben. Daraus folgt dann natürlich logisch, Herr Sarrazin muss das gar nicht extra dazusagen, dass alle Versuche, durch Bildungsreformen und pädagogische Anstrengungen (von affirmative Action ganz zu schweigen), die Chancen dieser Chancenlosen zu erhöhen, von vornherein aussichtslos sind.

 

Kurzum: Die Unten sind zu recht unten. Schlimmer: Sie machen uns Gebildeten, Verfeinerten, Klugen auch noch das Leben schwer.

 

Meine Damen und Herren, gesetzt dem Fall, dass Dummheit vererbbar ist, aber nur für diesen Fall, würde ich sagen, dass man Herrn Sarrazin für diese bizarren Thesen doch keinen Vorwurf machen darf. Es lohnt sich nicht, diesen Gedanken Gehör zu schenken. Was aber nicht heißt, dass wir unser Ohr nicht an den Echo-Raum halten sollen, aus dem heraus Sarrazin jetzt zugejubelt wird. Dieser Echo-Raum, in dem Muslime Hinternhochbeter und Schafficker genannt werden, diese gute Gesellschaft, in der man sich vor Geifer nicht halten kann, diese „Endlich dass es mal jemand laut ausspricht“-Ranküne-Gesellschaft. Sie sind ja nicht zu überhören, die da mit überschlagender Stimme schreien: Raus mit denen! Mit denen, die da auf unsere Kosten…. die da unsere Mädls in den Discos…. die sich gar nicht integrieren wollen…. Lesen sie hinein in die Postings unter den Artikel, sehen sie sich diese Niedertracht an und die Bosheit, und die feixende Freude, dass man andere Menschen verachten darf. Diese giftige Lust, andere Menschen beschimpfen zu könne. Diese ihre und meine „inländischen Mitbürger“, die aufspringen und applaudieren und die in Sarrazin ihr neues Idol gefunden haben, die Bösmenschen und Hassposter… dieses Gift, dass da sickert und diffundiert durch die Kapillaren unserer Gesellschaft…

 

Aber halt! Soll ich wirklich hier weitersprechen…? Wollen wir, in einer literarischen Feierstunde, unsere Zeit darauf verschwenden?

 

Ja, obwohl ich nicht zu Alarmismus neige, es ist unübersehbar, wie sich dieses Gift des Gegeneinander Aufhetzens wieder ausbreitet, wie es die öffentlichen Diskurse verpestet. Aber auch, wenn es diese Niedertracht gibt, möchte ich nicht glauben wollen, dass die Menschen halt so grundsätzlich niederträchtig sind. Die Niedertracht selbst ist eine Funktion, ein Resultat komplizierterer gesellschaftlicher Zusammenhänge. Sie ist eine Potentialität, aber keine Notwendigkeit. Wenn wir gesellschaftliche Probleme und Fehlentwicklungen erleben, wir aber gleichzeitig keine überzeugenden positiven Bilder haben, keine begeisternde Idee, wie eine gute Gesellschaft aussehen könnte, wie wir zu einem Zustand kommen könnten, der die heutigen Probleme auflöst und in eine bessere Ordnung überführt, dann wuchert auch der Negativismus, Zukunftslosigkeit heißt nicht nur, dass viele Menschen für sich keine bessere Zukunft sehen, was ihnen positiven Elan raubt, Zukunftslosigkeit heißt auch, dass wir uns für unsere Gemeinwesen eine besser Zukunft nicht mehr vorzustellen vermögen. Und das ist so simpel dahergesagt wie brisant: Weil, die besten Epochen unserer Geschichte waren schließlich die, in denen wir noch an einen Fortschritt glaubten, in denen wir noch so etwas wie eine subkutane Gewissheit, natürlich keine vollständige Sicherheit, aber doch so etwas wie eine sehr begründete Zuversicht zu haben glaubten, dass das Morgen schon besser als das Heute sein wird, dass wir unsere Welt, unser Land, unsere Zivilisation verbessern können. Aber wer kann sich das heute noch vorstellen? Sie? Sie?

 

Und dies ist ein politisches Thema, aber auch ein kulturelles Thema.

 

Erlauben Sie mir, hier mit einer kleinen Geschichte, einer Anekdote zu beginnen.

 

Vor ein, zwei Jahren war ich im Rhiz, einem der kleineren, aber avanciertesten Wiener Musikschuppen. „Soap & Skin“ war angesagt, und dahinter verbirgt sich Anja Plaschg. Österreichs neuestes Wunderkind. 18 Jahre war sie gerade geworden und macht seltsame melancholische Lieder am Piano, unterstützt von ihrem Laptop. Auf einem steirischen Bauernhof aufgewachsen, studiert sie an der Akademie der Bildenden Künste (malen tut sie nämlich auch noch), war aber schon damals kein Geheimtipp mehr. So ist das Gewölbe des „Rhiz“ hoffnungslos überfüllt. Die Luft ist dick. Junge Frauen kollabieren. Der Abend hat etwas Magisches. Man ist nicht nur gekommen, um Musik zu hören. Man ist gekommen, um etwas zu erleben. Es geht da auch um Zeugenschaft: Dabei gewesen zu sein, als etwas begonnen hat. Irgendwie so muss es gewesen sein, als die junge Patti Smith ihre ersten Auftritte hatte. Beginnergefühl. Wille zur Modernität. In gewissem Sinn ist das Publikum der Star. Denn unabhängig davon, ob die junge Künstlerin erfüllt, was man von ihr erhofft – interessant sind vor allem die Projektionen des Publikums, das ersehnt, dass etwas Neues kommt.

 

Gelegentlich gibt es das noch in der Kunst. Aber es wird kein Zeitgefühl daraus. Man kann modern sein, aber die Moderne ist keine lebenssprühende Idee mehr. Man kann das fast die Paradoxie des Utopischen nennen – volle Gegenwart ist nur, wenn die Gegenwart sich durchstreichen will, während die Zufriedenheit mit der Gegenwart zu einer leeren Gegenwart führt, ja zu einer Gegenwartskrise. Fruchtbar ist eine Zeit, die als utopischer Moment erfahren wird. Dass es daran mangelt, daran krankt die intellektuelle Situation. So sind die raren utopischen Augenblicke auch durchzogen von Nostalgie. Sie sind keine vollen Momente mehr, sondern eher Schwundformen profaner Erleuchtungen, Erinnerungsblitze an eine Zeit, in der man noch optimistisch nach vorne schaute – Nostalgie nach der Utopie.

 

Man blickt zurück, weil man da Zeiten findet, in denen allgemein nach vorne geschaut wurde. Nostalgie nach der Utopie, ja, die gibt’s, so kurios das klingt.

 

Wir wissen heute, dass die Geschichte keine Autobahn ist, ohne Gegenverkehr, weil es nur in Richtung Fortschritt ginge. Die Postmoderne tanzte auf dieser Einsicht ihre fröhliche Kapitulationsparty. Die Linke, die sich immer mit der Geschichte im Bündnis wähnte, schlägt seit zwanzig Jahren nur mehr depressive Sounds an. Der Optimismus hat die Seiten gewechselt. Optimistisch waren, und auch das womöglich nur bis zum Finanzmarktkollaps vor zwei Jahren, die Neokonservativen und die Arbeitgeberfunktionäre, die Loblieder auf die „schöpferische Zerstörung“ singen und unter „Fortschritt“ eine Mischung aus Globalisierung, Deregulierung und Computerisierung meinen. Eine Schwundform auch das, und eine lächerliche noch dazu.

 

Vielleicht verstehen wir erst heute so recht, was „die Moderne“ war, weil wir uns mit dem Mangelgefühl herumschlagen müssen, das ihr folgte. Neue Stile, neue Technologien, Fortschrittsemphase und der Glaube, dass eine andere Welt möglich ist, verdichteten sich zu einer Mentalität. Technologie, Avantgarde und avancierte Theorie sollten, so war lange Common Sense in den „Szenen“, auch die moralischen Geschicke der Menschen verbessern. Moral war so gesehen „modern“. Heute sind Moral und Altruismus altmodisch, modern ist das Streben nach dem Eigennutz. Die Moral hat einen schweren Stand, weil ihr Bündnis mit dem Fortschritt zerbrach. Die Moral hat etwas Leichtes und Kräftiges zugleich, wenn sie von der Gewissheit getragen ist, dass sie die Geschichte auf ihrer Seite hat, kurzum: wenn sie sich „mit den Realitäten“ im Bunde weiß. Moral, die den Wind im Rücken wähnt, kann sich im Impliziten begnügen. Bläst ihr der Wind aber ins Gesicht, wird die Moral schnell als Moralismus ostentativ, sie herrscht einen an, geht einem auf die Nerven.

 

Für die Intellektuellen, wenn wir diese unsympathische Hilfsvokabel gebrauchen wollen für Menschen, die werktags ihre Kritik einreichen, gibt es angesichts dessen nur eine unerfreuliche Auswahl im Rollenfundus. Da gibt es die Bänkelsänger des Bestehenden, die im schneidigen Ton das lobpreisen, was auch ohne ihr Zutun geschähe und das irgendwie für heroisch halten. Da sind die Subkulturen des Radical Chic, die Milieus des steuerfinanzierten Dagegenseins. Da sind diese Kritiker mit den traurigen Augen, die heute verteidigen, was sie gestern kritisierten, weil nur Schlechteres nachkam. Und da ist die Selbststilisierung der Medienintellektuellen, die sich arrangiert haben mit der Soundbitekultur, die einstmals ihre Eitelkeit womöglich in den Dienst einer Sache gestellt hätten, und diese heute, in Ermangelung einer Sache, in den Dienst des „Ich“ stellen. All dies ist Resultat des Auseinanderbrechens jenes Arrangements, das man früher „die Moderne“ nannte – with a little help durch den Konsumismus, der alles zur Ware macht, auch die Gesellschaftskritik, bis sie mit den Sehgewohnheiten vereinbar ist, die am Privatfernsehen geschult sind. All das ist, salopp gesagt, irgendwie krank, genauer: es sind Symptome einer intellektuellen Pathologie der Gegenwart.

 

Die Auffassung ist weit verbreitet, dass dies eine im emphatischen Sinne tragische Situation ist, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Aber stimmt das eigentlich? Der Wille zur Modernität ist, wie der Name schon sagt, ein Willensakt. Dass man diese Welt nicht vorwärts bringen kann, weil alle Akte, die wir setzen, von unintendierten Nebenfolgen dementiert würden, alle Vorsätze in ihr Gegenteil verkehrt werden, dies ist im Einzelfall richtig, in der schlichten demoralisierenden Verallgemeinerung aber nichts als neokonservative Propaganda, die man nur deshalb nicht recht mit dem Begriff „selbstzufrieden“ charakterisieren kann, weil ihr unmittelbares Resultat grassierende Depression ist, was manches mit einem anstellt, aber zu Zufriedenheit eher selten führt.

 

Modernes Bewusstsein, zumal wenn es mit rebellischem Elan legiert war, war, um das mit Walter Benjamins Worten zu sagen, immer getragen von Kritik der Gegenwart bei gleichzeitig „rückhaltlosem Bekenntnis“ zu dieser – oder, einfacher gesagt, von utopischem Fortschrittsbewusstsein. „Die Moderne war“, schreibt Susan Sontag einmal in einem Aufsatz über die Sechziger Jahre der mit dem Titel „Dreißig Jahre später“ überschrieben war, die Moderne war, „immer noch eine lebenssprühende Idee. (Das war vor den Kapitulationen, die sich in der Vorstellung der ‚Postmoderne’ verkörpern).“ Weiter: „Wie wundervoll das alles im Rückblick erscheint. Wie sehr man sich wünschte, dass ein wenig von der Kühnheit, dem Optimismus, der Verachtung für den Kommerz überlebt hätte. ... Die Zeit, in der wir leben, wird nicht als utopischer Moment erfahren, sondern als das Ende – genauer gesagt, als die Zeit unmittelbar nach dem Ende – jedweder Ideale. ... Heute kommt den meisten Menschen allein schon die Idee des Ernsthaften (und des Ehrenhaften) kurios vor, ‚unrealistisch’.“

 

Man kann sagen: So ist das eben. Man kann einwenden: Wo soll diese lebenssprühende Optimismus herkommen, wenn man weiß, dass alles irgendwie schon mal da war? Man kann erwidern: Wie kann man dem naiven Glauben erneuern, dass wir ein besseres Morgen bauen können, wenn wir wissen, wohin uns dieser Glaube schon gebracht hat – dass er gelegentlich in Katastrophen gemündet ist, dass er aber viel öfter unintendierte Nebenfolgen produzierte, dass die guten Ideen von heute die Probleme von morgen sind? Ja, das weiß ich schon alles. Die guten Ideen, die entpuppen sich oft auch als Betrug.

 

Aber wohin bringt uns eigentlich die die scheinbar aufgeklärte Abgeklärtheit? Die Gewissheit, dass menschliche Gesellschaften halt etwas sind, wo es knirscht und knarrt, dass das halt nicht geht, sie funktionstüchtiger, zeitgemäßer, gerechter, gleicher zu gestalten? Dass das halt nicht funktioniert mit einem Wesen, das aus so krummen Holz geschnitzt ist wie der Mensch? Dass das halt nur ein schöner Traum ist, dass man Gesellschaften schaffen kann, in denen jeder aus seinem Leben etwas machen kann, in denen wir das allgemeine Niveau von allen heben, in denen kein Kind zurück bleibt und man keinen abschreibt? Wie viel Betrug ist da im Spiel, dass das heute die meisten so sehen, und sei es nur instinktiv? Und wie viel Selbstbetrug?

 

Selbstredend, wir wissen, um Marx zu paraphrasieren, die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken. Doch sie machen ihre Umstände schon auch in demselben Maße, wie die Umstände sie machen.

 

Wir sollten wieder modern sein. Ein gescheiter Ausländer hat einmal gesagt: Yes, we can.

 

© Robert Misik

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