„Unser Erfolg ist, Menschen wieder eine Perspektive jenseits der Straße zu ermöglichen“
Katrin Wilhelm leitet das WESER5 Diakoniezentrum im Bahnhofsviertel und ist verantwortlich für das im Frühjahr eröffnete Hygienecenter
Es ist ein kalter ruhiger
Freitagmorgen im Bahnhofsviertel. Auf der Münchener Straße öffnen gerade die
Friseure und Restaurants, Lebensmittelhändler stellen Obst und Gemüse raus, vor
der Bäckerei an der Münchener Straße hat sich bereits eine Schlange gebildet.
100 Meter weiter in der Weserstraße betreten Menschen das Haus mit der Nummer
5. Es sind vor allem Wohnungs- und Obdachlose, die dort Beratung, einen
Rückzugsort, Essen und Trinken oder eine warme Dusche suchen. Mancher zögert
beim Betreten, anderen wiederum merkt man an, dass sie nicht zum ersten Mal im
WESER5 Diakoniezentrum sind.
Die Leiterin des Zentrums für Obdach- und Wohnungslose der Diakonie Frankfurt
und Offenbach im Bahnhofsviertel ist Pragmatikerin mit viel Leidenschaft und
Güte, mit Erfahrung und einem klaren Ziel: Katrin Wilhelm kennt die Probleme
auf der Straße, vor allem im Bahnhofsviertel, und packt an. So auch, als die
Stadt Frankfurt im Frühjahr kostenlose Duschräume und Toiletten einrichten
wollte. „Wir haben angeboten, das übergangsweise auf unserem Gelände zu
machen“, erinnert sich Wilhelm. Als die Diakonie den Betrieb des Hygienecenters
übernahm, habe es keine Vergleichseinrichtungen gegeben, an denen man sich
hätte orientieren können. „Wir haben es einfach gemacht, und natürlich auch
nachjustiert. Klar hatten wir Sorge, ob es angenommen wird und unser Ziel war
es, den Zugang so niedrigschwellig wie möglich hinzukriegen.“ Die Sorgen waren
unnötig: Das Angebot wird sehr gut angenommen, im Schnitt kommen täglich 50 bis
70 Menschen zum Duschen. Zu Spitzenzeiten im Sommer seien es über 100 Menschen
täglich gewesen, die das Hygienecenter nutzten, berichtet Wilhelm.
Wer duschen will, kann
duschen – niemand fragt nach einem Namen
Es stehen insgesamt „nur“ zwei
Container mit Toiletten und Duschen auf dem Hof des WESER5 Diakoniezentrums,
aber für die Menschen sind sie eine wichtige Einrichtung. Seit dem 1. April
dieses Jahres gibt es das Hygienecenter der Diakonie und der Stadt – zunächst
bis März 2024. Es ist eine Übergangslösung, langfristig soll das Angebot einen
festen Platz bekommen. Über den Innenhof sind die Container mit Sanitärräumen
für Männer erreichbar. Für Frauen sind die Duschräume im Tagestreff im Inneren
des Gebäudes untergebracht. An der Ausgabestelle gibt es kostenlose
Hygieneartikel wie Duschgel, Shampoo, Deo, Zahnbürsten und Handtücher. Auch
frische Unterwäsche, Socken und Kleidung bekommen die Besucher dort bei Bedarf.
„Es ist ein niedrigschwelliges Angebot. Wir fragen nicht nach Namen oder
Gründen. Die Menschen kommen, erhalten von uns alles, was sie brauchen, und
können dann unter die Dusche“, erklärt Wilhelm. Ein Plakat mit Piktogrammen der
Gegenstände erleichtert es denjenigen, die kein Deutsch sprechen, zu zeigen,
was sie benötigen. Zudem ist es der Leiterin wichtig, dass die Mitarbeiterinnen
an der Ausgabestelle verschiedene Sprachen wie Russisch, Bulgarisch, Rumänisch,
Romanes oder Türkisch beherrschen, denn die Sprachbarriere erschwere es oft
zusätzlich, die Nutzenden zu erreichen.
Während sie durchs Haus mit seinen verschiedenen Einrichtungen für Wohnungslose
geht, wird Wilhelm von den Besucherinnen und Besuchern begrüßt. Sie kennen die
Leiterin und sprechen sie direkt an. Wilhelm bleibt stehen, hört sich ihre
Anliegen an und versucht, gleich den richtigen Ansprechpartner zu vermitteln.
Auf dem Hof trifft sie auf Daniel. Auch er möchte gerne duschen und fragt, ob
es eine Jogginghose gibt. „Weil die wärmer ist als eine Jeans“, erklärt er. Die
Leiterin des WESER5 Diakoniezentrums geht mit ihm zur Ausgabestelle für die
duschenden Gäste – es ist ein Fenster zum Innenhof, direkt bei den Containern.
Dort steht Yuliana Kaymaz, sie ist eine von vier Mitarbeiterinnen, die von
Montag bis Sonntag von 8.30 bis 16.30 Uhr die Besucher mit den notwendigen
Dingen versorgen.
Bei Konflikten ruhig bleiben
und besonnen reagieren
An diesem Tag gibt es keine
Jogginghose. „Das tut mir leid“, sagt Wilhelm. Für Daniel ist es okay. „Ich bin
sehr dankbar, dass ich hier duschen kann. Woanders kann man oft nur drei
Minuten duschen, das ist doch nichts. Hier kann ich auch mal zehn Minuten unter
der warmen Dusche stehen“, sagt der 42-Jährige, der seit acht Jahren auf der
Straße lebt. Einen Schlafplatz habe er in der Winterübernachtungseinrichtung am
Eschenheimer Tor. Natürlich hätte er gerne wieder eine Wohnung. „Aber wenn du
einmal auf der Straße gelebt hast, ist es schwer rauszukommen“, sagt er.
Nicht immer reagiert ein Gast so verständnisvoll. Konfliktpotenzial gebe es
immer – ob es um Unterwäsche geht, die gerade nicht vorhanden ist, und eine
verbale Eskalation auslöst oder die Wartezeit, wenn die Duschen geschlossen
sind, weil sie gerade gereinigt werden. „Vor kurzem hatten wir jemanden, der
einen Stein in das Ausgabehäuschen geworfen hat. Dem dauerte es zu lange mit
den Reinigungsarbeiten“, berichtet Wilhelm. In solchen Situationen sei es
wichtig, besonnen zu bleiben und zu deeskalieren – dafür seien die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter speziell geschult. In Teamsitzungen und während
der Supervision werden solche Vorfälle besprochen. Mitarbeitende erhalten zudem
Einzelsupervision nach Ereignissen, die sie belasten. Auch Wilhelm kann für
sich Einzelsupervision in Anspruch nehmen. „Im Alltag hilft mir zudem der
Austausch mit Leitungskolleg:innen aus dem Arbeitsfeld und Sport“, sagt
Wilhelm.
Seit der Pandemie sind die
Zustände auf der Straße rauer geworden
Aus ihrer mehr als 20-jährigen
Arbeitserfahrung mit obdach-und wohnungslosen Menschen weiß Wilhelm, wie schwer
es ist, diese zu erreichen und sie zu motivieren, Hilfe anzunehmen. Das
Hygienecenter schafft eine gute Möglichkeit, diese Menschen ganz
niedrigschwellig zu erreichen. So wachse Vertrauen und weitere Hilfen könnten
angeboten werden. Die 43-Jährige arbeitet seit 2020 im WESER5 Diakoniezentrum
und hat im Juni 2022 die Leitung übernommen. Während ihres Studiums der
Sozialen Arbeit in Frankfurt jobbte sie in der Drogenhilfe im Bahnhofsviertel
und kennt daher den Stadtteil mit seinen Schwierigkeiten und Herausforderungen.
„Jeder hat eine Meinung zu diesem Viertel. Entweder man tut zu wenig oder zu
viel. Das macht die Arbeit nicht leichter. Leider werden Obdachlose von manchen
dazu genutzt, um gezielt zu polarisieren, aber die einzelnen Betroffenen mit
ihren Schicksalen, Sorgen und Nöten geraten dabei aus dem Blick.“
Ihre berufliche Laufbahn hat Wilhelm auch nach Berlin und Darmstadt geführt.
Sie weiß, dass jede Stadt und deren Bewohner anders mit der Thematik umgehen.
Während sich in Berlin Obdachlose und ihre multiplen Problemlagen auf
verschiedene Viertel verteilten, habe Frankfurt im Bahnhofsviertel die geballte
Szenerie. „Das ist ein sehr enger Raum, die meisten Obdachlosen halten sich im
Bahnhofsviertel auf.“ Auch der Umgang der Bevölkerung sei unterschiedlich – in
Berlin gebe es eine große Spendenbereitschaft. „Obwohl die meisten
Einwohnerinnen und Einwohner ärmer sind als in Frankfurt.“
Einen toleranten und wohlwollenderen Blick der Öffentlichkeit wünscht sie sich.
„Menschen, die auf der Straße leben, sind darauf angewiesen, dass wir als
Gesellschaft auf sie achten.“ Viele der Obdachlosen seien psychisch krank. Das
Viertel sei ein Brennglas für die Gesellschaft. Seit der Pandemie seien die
Zustände auf der Straße rauer geworden. Wo es viel Reichtum gebe, gebe es auch
viel Armut. Diesen Kontrast spüre man im Bahnhofsviertel besonders deutlich.
Sie könne verstehen, dass das Viertel den Menschen Angst mache. Sie selbst
bewege sich angstfrei im Stadtteil. „Andernfalls wäre die Grundlage für meine
Arbeit nicht mehr gegeben. Natürlich gibt es Situationen, in denen auch ich die
Straßenseite wechsle“, sagt sie. Deshalb seien mehr Rückzugsräume für diese
Menschen wichtig, damit sie nicht ständig den Blicken der Öffentlichkeit
ausgesetzt sind. „Mir macht es Sorgen, wenn ich sehe, wie diese Menschen in den
Medien und besonders in den sozialen Medien dargestellt werden.“ Dass man ihnen
mit Würde und Menschlichkeit begegnet, statt sie zu stigmatisieren und zu
diffamieren, das wünscht sich Wilhelm und setzt sich dafür ein.
Mutig sein und auch mal
Scheitern können
Auf die Frage, warum sie diese Arbeit macht, ist ihre Antwort klar: „Weil ich
es kann. Ich mag diese Menschen. Mein Erfolg ist, wenn jemand duscht, oder es
schafft, drei Tage in einer Übernachtungsstelle zu bleiben oder einen Termin
einhält“, sagt sie. Wenn sie sehe, dass sich eine Betroffene wieder schminke
oder ein Betroffener regelmäßig zum Duschen komme, dann mache sie das froh.
„Das bedeutet nämlich, dass sie sich wieder selbst spüren und sich selbst
Wertschätzung entgegen bringen“, erklärt Wilhelm.
Man brauche Mut, Dinge auszuprobieren und dürfe keine Angst vorm Scheitern
haben. Sozialarbeit funktioniere nur mit Beharrlichkeit und dem Aufbau von
Vertrauen: „Wenn ich einer Person zum achten Mal die Dusche, ein paar Schuhe
oder einen Notschlafplatz anbiete und sie dies ablehnt, muss ich es ein neuntes
und ein zehntes Mal versuchen. Irgendwann wird das Hilfsangebot angenommen“,
erklärt sie. Dabei sei Bevormundung nie der richtige Weg. „Menschen, die so
lange auf der Straße gelebt haben, äußern ihre Wünsche oft nicht mehr – sie
haben das verlernt. Aber auch sie haben Bedürfnisse, zum Beispiel gesehen zu
werden oder eine Umarmung zu bekommen.“ Wilhelm nimmt die Leute an wie sie sind
und bleibt geduldig an ihnen dran. Auf dem Hof kommen und gehen die Besucher –
mancher bleibt für eine Dusche und eine Mahlzeit oder ein Nickerchen in Ruhe im
Tagestreff, ein anderer unterhält sich draußen mit anderen Besucherinnen, und
immer nimmt sich die Leiterin des WESER5 Diakoniezentrums einen Moment Zeit für
einen Gruß oder für eine kurze Unterhaltung. Zu vielen Gästen kann Wilhelm
etwas berichten, kennt ihre Lebensgeschichten und ihre Sorgen. „Ich mache diese
Arbeit für die Menschen, die draußen leben.“ Deshalb ist sie weiterhin zu einem
ganz kleinen Teil ihrer Zeit in das Arbeiten an der Basis involviert und
leistet selbst Straßensozialarbeit.
Als Leiterin ist Wilhelm auch eine Brücke zwischen der täglichen praktischen
Arbeit und den vielen Gremien, auf deren Unterstützung Einrichtungen wie das
WESER5 Diakoniezentrum angewiesen sind: „Ich muss aufzeigen, wo Hilfe gebraucht
wird und überzeugen, dass Hilfe gebraucht wird.“ Diese Hilfe ist für die
Betroffenen eine wichtige Konstante. „Diese Menschen sind selbst unzuverlässig,
wir mit unserer Arbeit stellen Zuverlässigkeit dar, die die Menschen brauchen
und auf die sie sich verlassen können“, sagt Wilhelm.
WESER5 Diakoniezentrum
Tagestreff
Der WESER5 Tagestreff Weißfrauen im Bahnhofsviertel ist Teil des WESER5
Diakoniezentrums mit seinem umfangreichen Angebot für Obdach- und Wohnungslose.
Der Tagestreff, der 2022 fast 40.000 Besuche zählte, ist Anlaufstelle für
Männer und Frauen ohne Wohnung. Vieles ist hier möglich, was beim Leben auf der
Straße fehlt.
Duschen, Essen und Trinken, in Schließfächern die wichtigsten Sachen verstauen,
soziale Kontakte pflegen und Informationen austauschen – im Tagestreff können
die wichtigsten Alltagsdinge erledigt werden. Auch vier PC-Plätze stehen im
Tagestreff zur Verfügung. Die Mitarbeitenden bieten Gespräche und Unterstützung
an, wer sich nur aufwärmen möchte, ist ebenso willkommen.
Um umfassende Hilfe bieten zu können, arbeiten die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Tagestreffs nicht nur eng mit den anderen Bereichen des WESER5
Diakoniezentrums zusammen, wie der Straßensozialarbeit, der Sozialen
Beratungsstelle, der Notübernachtung oder dem Übergangswohnheim für Männer,
sondern sie sind auch mit allen Trägern der Wohnungsnotfallhilfe und der
Drogenhilfe in Frankfurt eng vernetzt und arbeiten eng mit Institutionen und
Ämtern zusammen.
Text: Pelin Abuzahra