„Einfache Lösungen gibt es nicht!“
Stadtplaner Klaus-Peter Kemper über Perspektiven für das Bahnhofsviertel
Klaus-Peter Kemper hat Stadt- und Regionalplanung studiert. Er ist Geschäftsführer der Konversions-Grundstücksentwicklungsgesellschaft, einem Beratungsunternehmen für Stadtentwicklung und -modernisierung, an dem mehrheitlich die Stadt Frankfurt am Main beteiligt ist. Er hat das Projekt „Stadtumbau Bahnhofsviertel“ betreut, welches von 2005 bis 2017 lief und von Bund, Land und Kommune finanziert wurde. Er kennt daher die jüngere Entwicklung des Stadtteils aus städtebaulicher Sicht. Im Interview schildert Kemper seine Perspektive auf das Viertel.
Herr Kemper, Sie haben verschiedene städtebauliche Projekte im
Bahnhofsviertel betreut und verfolgen die aktuelle Debatte. Welchen Eindruck
haben Sie?
KLAUS-PETER KEMPER: Auffallend ist vor allem die Dynamik der Entwicklung, die
in kürzeren Schritten und mit immer neuen Themen geschieht. Oder anders ausgedrückt:
Die öffentliche Diskussion hat sich verändert, noch einmal verändert und noch
einmal verändert. Das ist die eine Seite. Andererseits gibt es eine Kontinuität
von Themen, die immer noch da sind, aber anders.
Das klingt sehr abstrakt. Können Sie diese Wahrnehmung erklären?
KEMPER: Ich habe seit 2007 intensiv mit der Werkstatt Bahnhofsviertel
zusammengearbeitet, einem offenen Treff von Leuten, die sich mit der Situation
in ihrem Quartier auseinandersetzen. Ich erinnere mich noch: Die Themen drogenkranke
Menschen, Sexgewerbe und Müll gab es schon damals. Heute ist die Drogenszene
durch Crack geprägt, während damals Heroin dominierte. Peepshows und andere
Angebote, wie es sie früher gab, sind aufgrund des Internets weitgehend
verschwunden. Die Müllmengen sind nach meinem Eindruck mehr geworden.
Geändert hat sich seitdem mehrfach auch das Image des Viertels. Zu Beginn
meiner Zeit dort hieß es, man könne dort nicht mehr wohnen. Danach tat sich
einiges, um es aufzuwerten. Die Gegend – übrigens zum Zeitpunkt seiner
Entstehung in der Gründerzeit das modernste Viertel der Stadt – wurde hip. So
kam es 2013 und in den Jahren danach zur Debatte um Gentrifizierung im
Bahnhofsviertel. Zeitgleich hatte sich von 2007 bis 2017 die Bevölkerung
verdoppelt.
Seit 2019 nehme ich einen weiteren Entwicklungsbruch wahr. Wenn ich nach Corona
durch den Stadtteil laufe, stelle ich eine massive Veränderung der Situation
mit den Konsequenzen fest, die heute die öffentliche Debatte prägen.
Es ist ja schon mal besser gewesen. Wenn Sie die Gemengelage aus Ihrer
Erfahrung betrachten, wo ließe sich ansetzen?
KEMPER: Einfache Lösungen gibt es nicht. Dazu muss man die unterschiedlichen
Perspektiven zusammenbringen; ich kann die stadtplanerische anbieten. Ich mache
es einmal an dem Beispiel der durch Crack massiv veränderten Drogensituation
deutlich. Wir als KEG vermieten in anderen Stadtteilen Immobilien, in denen
Ärzte für Drogenkranke arbeiten und sich eine Einrichtung zur
Methadonsubstitution befindet. Das funktioniert mittlerweile ohne große
Probleme. Substitution und kontrollierte Vergabe waren damals etwas Neues, als
Frankfurt damit anfing. Entsprechend wird es für diese neue Problemlage neue
Lösungen geben.
Hier sind wir bei dem, was ich vorhin mit „Perspektiven zusammenbringen“
meinte. Für mich als Stadtplaner stellt sich die Frage: Brauche ich alle
Einrichtungen an diesem problematischen Standort? Was spricht dagegen, einen
Teil nicht an andere Orte zu verlagern? Die Fachleute aus der Drogenhilfe
sagen, nur so ließen sich die Menschen optimal erreichen. Auch das stimmt. Aber
im Endeffekt gilt es, aus diesen beiden Perspektiven eine funktionierende
Lösung zu entwickeln. Hier muss sich die Stadtpolitik entscheiden.
Das Viertel zeichnet seine besondere Mischung aus Wohnnutzung, Gastronomie-
und Gewerbebetrieben, Standort für Erotikdienstleistungen sowie Treffpunkt von
drogenkranken Menschen einschließlich Betreuungsangeboten aus. Hinzu kommt die
Lage am Hauptbahnhof als „Tor in die Stadt“. Welche Grundvoraussetzungen sind
nötig, um ein funktionierendes Zusammenleben zu organisieren?
KEMPER: Zuerst einmal muss ich die Aufenthaltsqualität heben. Ein Ansatz wäre,
die Bahnhofsnähe nach dem Konzept der „Arrival Cities“ zu nutzen. Das bedeutet,
von der Struktur ein Angebot für Menschen zu schaffen, die in der Stadt
ankommen, um zu arbeiten und zu leben, also hier neu sind. Wer das tut, stammt
oft aus anderen Kulturkreisen und wird ein entsprechendes Angebot suchen.
Hierzu gibt es bereits verschiedene funktionierende Beispiele aus dem In- und
Ausland, etwa Berlin-Kreuzberg oder Los Angeles. Der weitere Vorteil dieses
Konzeptes: Menschen aus anderen Teilen Frankfurts kämen in die sogenannte
Ankunftsstadt, weil sie hier ein Angebot vorfinden, was es bei ihnen nicht
gibt.
Ein weiterer Schritt ist es, den öffentlichen Raum zu beleben. Das bedeutet,
Plätze und Straßen so zu gestalten, dass sich keine „Schmuddelecken“ bilden.
Große Freibereiche mit durchgehenden Sichtachsen helfen hier. Denn verwinkelte
Strukturen bedeutende Angsträume, da man sie nicht einsehen kann. Wichtig ist
allerdings auch, die Flächen und Plätze zu pflegen, damit sie gerne genutzt
werden.
Zusätzlich kann ich durch Wohnnutzung die Aufenthaltsqualität heben. Der
öffentliche Raum erfährt so eine Umnutzung und die wirtschaftliche
Infrastruktur ändert sich. Gleichzeitig muss auch diese ins Blickfeld genommen
werden. Wir haben bei unserer letzten Erhebung 2015/2016 eine überproportionale
Zunahme gastronomischer Betriebe festgestellt. Das wiederum erklärt einen Teil
der Abfallproblematik.
Das klingt alles nicht ganz einfach. Denn es gilt grundsätzlich die
Eigentums- und Gewerbefreiheit, sprich: Man kann zuerst mal mit Immobilie und
Gewerberaum innerhalb gewisser Grenzen machen, was man will. Ist die Stadt hier
machtlos?
KEMPER: Das würde ich so nicht sehen. Die Eigentümer möchten mit ihren
Immobilien Geld verdienen. Insofern kommt es darauf an, ihre Interessen zu
treffen. So etwas erfordert sicherlich viel Kleinarbeit, aber wer Wohnungen
oder Geschäftsräume anbietet, möchte ein Umfeld, in dem sich die Kunden wohl
fühlen. Hier gibt es Instrumente, auch wenn es mühevolle Kleinarbeit ist. Mir
geht es auch nicht darum, das Erotikgewerbe zu verdrängen. Wir haben die
Erfahrung gemacht, dass die Betreiber Aufenthaltsqualität schätzen.
Das sieht nach vielen Puzzleteilen aus. Welche Stellschrauben sehen Sie
noch?
KEMPER: Natürlich ist das Kleinarbeit. Wer dieses Stadtviertel entwickeln und
pflegen will, kommt nur so weiter. Das ist anstrengend, muss aber politisch
gewollt sein. Wenn wir über Aufenthaltsqualität sprechen, geht es immer wieder
um kleine Details. Nehmen wir etwa die Angsträume an den Häusern, also Nischen,
Einfahrten und Gänge. Hier halten sich Leute auf und machen verschiedenste
Sachen, die sie dort nicht machen sollen. Dort geht niemand gerne vorbei, erst
recht nicht nachts. Hier hilft nur, in vielen Gesprächen mit den Eigentümern
darauf hinzuwirken, diese Räume baulich anders zu gestalten.
Zwei weitere Beispiele: Eine Ladenpassage ist so gestaltet, dass sie Fläche zum
Liegen bietet. Ihre Ecken gewähren dazu noch Sichtschutz. In solchen Fällen
bietet es sich an, schon bei der Planung mit den Bauherren zu sprechen. Auch
wenn das möglicherweise nicht rechtlich vorgegeben werden kann, liegt es im
Interesse der Betreiber, dass die Passage zum Flanieren einlädt. Oder ein
Drogeriemarkt beklebt sein Schaufenster, da er es nicht nutzt. Die Konsequenz:
Die Fläche davor bietet sich zum Lagern an, da es keinen Grund gibt, vor dem
Fenster zu stehen. Hier hilft nur zu kommunizieren, um den Laden zu überzeugen.
Lassen Sie uns über die positiven Seiten reden. Was sind die „Hidden
Champions“ im Viertel?
KEMPER: Das sind zuerst einmal die Menschen, die sich für ihr Viertel
einsetzen. Es ist das A und O, Leute zu haben, die aus eigenem Interesse aktiv
sind. Die Münchner Straße ist auf jeden Fall eine lebenswerte Straße. Ein
„Hidden Champion“ ist auch das Hilfsangebot Weser 5, welches Menschen, die auf
der Straße leben, in vielerlei Hinsicht unterstützt. Auch die gehören zum
Viertel dazu.
Mit den geförderten Projekten Nika und Niddastern ist Platz für
gemeinschaftliche Wohnformen entstanden. Ebenso hat es geklappt, nach langen
Verhandlungen in der Moselstraße öffentlich geförderte Wohnungen zu schaffen.
Die Münchner Straße ist auf jeden Fall eine lebenswerte Straße.
Gehen wir einmal auf die größere Ebene. Welche Rahmenbedingungen müssten
sich ändern, damit das Viertel wieder attraktiver werden kann?
KEMPER: Mit der Taunus- und Münchener Straße durchziehen zwei große Straßenzüge
das Quartier. Erstere ist als Anbindung zum Hauptbahnhof stark befahren. Man
sollte beide umbauen, damit sie schmaler und leichter zu kreuzen sind. Größere
Fußgängerflächen schaffen mehr Lebensqualität. Auch der Karlsplatz ist alles
andere als ein Ort, der zum Verweilen einlädt. Aber wie ich hörte, soll sich
etwas tun.
Ein Vorteil des Bahnhofsviertels ist, dass es ans Mainufer grenzt. Allerdings
durchtrennen die stark befahrenen Wilhelm-Leuschner- und Gutleutstraße die Wege
für Fußgänger dahin. Beides sind breite Straßen, die zusammen mit ihrer
Einbahn-Verkehrsführung zum schnellen Fahren einladen. Mein Vorschlag wäre,
hier Zweirichtungsverkehr zuzulassen, damit die Autos langsamer fahren und
Fußgänger leichter über die Straße gehen können. Aus der Verwaltung hörte ich hierzu,
das würde die verkehrliche Leistungsfähigkeit des Baseler Platzes
beeinträchtigen. Dieses Problem sollte jedoch lösbar sein.
Ein weiteres Thema ist die Versorgung mit öffentlichen Toiletten. Das
städtische Toilettenkonzept wurde Ende März nach langer Zeit beschlossen. Doch
es muss auch umgesetzt werden. Allerdings ist es damit auch nicht vorbei, denn
die Anlagen müssen sauber gehalten und gepflegt werden.
Wenn Sie Ihre Erfahrungen zusammenfassen würden: Was ist eine notwendige
Bedingung, um das Bahnhofsviertel erfolgreich zu entwickeln?
KEMPER: Wer dort Erfolg haben will, muss die örtlichen Akteure einbinden. Das
sind die Anwohner, Gewerbetreibenden und die sozialen Einrichtungen. Wer meint,
ohne diese eine Matrix drüber zu legen, wird scheitern.
Interview: Ulf Baier