Wer verbirgt sich hinter der Frankfurter Küche?

Die 1926 entworfene Frankfurter Küche gilt als Vorläuferin aller Einbauküchen. Dabei revolutionierte sie nicht nur die Arbeit am Herd. Die Küche war die Erfindung einer Frau, die alles andere als eine leidenschaftliche Köchin war: Margarete Schütte-Lihotzky, erste Architektin Österreichs und ihrer Zeit einzige Architektin im Frankfurter Hochbauamt. Eine Pionierin, die das „Neue Frankfurt“ weit über ihr Küchenkonzept hinaus maßgeblich mitgestaltete. Schütte-Lihotzky lebte und arbeitete zwar nicht viel länger als fünf Jahre in der Stadt, aber schrieb ein bedeutendes Kapitel Frankfurter Architekturgeschichte.
Bauen in Serie: über 12.000 standardisierte Einbauküchen
Stadtbaurat Ernst May, der unter Oberbürgermeister Ludwig Landmann arbeitete,
hatte im Baudezernat Großes für Frankfurt vor. Im Kreis der von May
auserwählten Architekten befand sich eine junge Frau mit Bubikopf, gebundener
Krawatte, kühnem Lächeln und kühlem Kopf: Schütte-Lihotzky. Zusammen sollten
sie das kommunale Wohnbauprojekt „Neues Frankfurt“ verwirklichen, das auf einem
Konzept der Typisierung basierte. Gebrauchsgegenstände, Einrichtungen,
Wohnungen und ganze Wohnsiedlungen wurden in Serien gebaut. Die
Massenproduktion wurde zu einem Schlüsselfaktor, um soziale Gerechtigkeit in
der Stadtgesellschaft zu verankern und gleichzeitig Zeit und Geld zu sparen.
May sah die Einbaumöbel der jungen Architektin in ihrem Wiener Atelier und
engagierte sie für sein großes Wohnungsbauprojekt in der Abteilung Typisierung.
Beinahe alle Wohnungen des „Neuen Frankfurt“ wurden mit ihrer Einbauküche als
wesentlichem Element der Gesamtentwurfsplanung ausgestattet. Je nach
Wohnungsgröße gab es rund 30 Varianten der Frankfurter Küche, die alle nicht
größer als sechs bis sieben Quadratmeter waren. Die herkömmliche Küche, die
bislang auch als Aufenthaltsraum gedient hatte, wurde nun auf die Funktion des
Zubereitens von Speisen reduziert. Auch der Essbereich wurde aus der
Frankfurter Küche ausgelagert und in den Wohnbereich verlegt. Zwischen 1925 und
1932 entstanden über 12.000 Wohnungen und Reihenhäuser – mit Küchen.
Kleines Puzzlestück einer großen Vision
Schütte-Lihotzkys Idee einer typisierten Küche ist weitaus komplexer, als die
schlichten Aluminiumschütten, die mit den Namen von Grundnahrungsmitteln wie
Erbsen, Grieß und Haferflocken beschriftet waren, vermuten lassen würden. Ihre
Küche war nicht nur funktional und effizient gestaltet, sondern vielmehr eine
soziale Haltung an sich, ein kleines Puzzlestück einer großen Vision. Einer der
grundlegenden Gedanken war die größtmögliche Rationalisierung der Hausarbeit.
Das neue Küchenkonzept sollte vorrangig Zeit sparen, um berufstätigen Frauen
den Haushalt zu erleichtern und trug damit auch ein emanzipatorisches Element
in sich – zumindest im Kontext der damaligen Zeit, an den Rollenbildern
veränderte sich dadurch nichts. Zudem sollte die Küche auch für ökonomisch
schwächer situierte Bürgerinnen und Bürger in Sozialwohnungen realisierbar
sein.
Neben den Aluminiumschütten, die eine hygienische Aufbewahrung sicherstellen
sollten, war auch der integrierte Dunstabzug eine Neuerung, ebenso wie der
Arbeitstisch aus strapazierfähigem Buchenholz, das bis heute gerne für Einbauküchen
eingesetzt wird. Die übrigen Arbeitsflächen waren mit schwarzem Linoleum
beschichtet, das sich leicht reinigen ließ. Auch andere Teile der Küche waren
so gestaltet, dass sich wenig Staub ablagerte, beispielsweise durch geflieste
Sockel der Einbaumöbel. Zugleich war der Mülleimer aus hygienischen Gründen in
einem von der Küche und vom Flur aus zugänglichen Einbauschrank untergebracht.
Eine an einer Stange verschiebbare Deckenlampe sorgte für eine variable
Beleuchtung und ausreichend Licht an jedem Ort in der Küche.
„Ich bin keine Küche!“
Hätte sie gewusst, dass alle immer nur von ihrer Küche reden würden, dann hätte
sie diese Küche nie entworfen, empörte sich die über 100-jährige
Schütte-Lihotzky noch kurz vor ihrem Tod. Kaum etwas missfiel ihr so sehr, wie
zeitlebens auf ihre Erfindung der Frankfurter Küche reduziert zu werden. Und
nichts lag ihrem Arbeitsethos ferner als ein auf Ästhetik bedachtes
Küchendesign. Schütte-Lihotzkys wegbereitendes Schaffen umfasst weitaus mehr
als ihr sogenanntes Kochlabor auf sechs Quadratmetern. Ihre Vision war eine
Stadt für alle.
Schütte-Lihotzky prägte das „Neue Leben“ des „Neuen Menschen“ in einem „Neuen
Frankfurt“, eine Bewegung, die in den 1920er Jahren überaus populär wurde und
auch international viel Aufmerksamkeit erlangte. Die „Neuen Menschen“ waren die
souveränen Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft, in der
allen die gleichen Rechte zustanden – so auch das Recht auf verfügbaren und
bezahlbaren städtischen Wohnraum.
Die Architektin stellte ihre Arbeit aus Überzeugung und sozialem
Verantwortungsbewusstsein heraus in den Dienst der Allgemeinheit, weil sie
gesellschaftlich etwas anstoßen und verändern wollte. Ihr war es ein Anliegen,
dass die berufstätige Frau so wenig Zeit wie nur möglich in der Küche
verbringen musste, wenn sie von der Arbeit in der Fabrik oder im Büro nachhause
kam. Auch wollte sie insgesamt die Lebensumstände von weniger privilegierten
Menschen verbessern. Ebenso war die Etablierung hygienischer Standards für sie
ein wichtiges Thema, um epidemischen Krankheiten wie der Tuberkulose
entgegenzuwirken.
Chancengleichheit und demokratische Grundwerte
wollte sie nicht nur propagiert, sondern umgesetzt, gelebt und gewohnt sehen. So
antwortete Schütte-Lihotzky in einem Gespräch mit der „Forschungsgruppe
Schütte-Lihotsky“ 1993 auf die Frage, wie sich die soziale Verantwortung der
Architekten in ihrer Arbeit ausdrücke: „Damals habe ich erkannt, welch
angespanntes, schweres Leben Hunderte und Tausende Menschen in unserer Stadt
führen mußten. Mir wurde das erste Mal die große soziale Verantwortung der
Architekten bewußt, mir wurde klar, daß der Wohnbau letzten Endes ein Spiegel
der Lebensgewohnheiten der Menschen zu sein hat, daß wir, ausgehend von diesem
Leben, von innen nach außen zu projektieren haben und nicht von der äußeren
Form nach innen gehend.“
Über den Tellerrand der Frankfurter Küche hinausdenken
Schütte-Lihotzky hatte stets das Ziel vor Augen, durch ihre Arbeit als
Architektin die gesellschaftliche Lebensrealität der Menschen zu verbessern.
Dies kommt in ihrem Lebenswerk und der Vielzahl ihrer Projekte zum Ausdruck,
die weit über die Grenzen Frankfurts hinaus prägend gewirkt haben. So findet
sich das Vermächtnis ihrer Arbeit auch in mehreren Nachfolgestaaten der
Sowjetunion, der Türkei, Bulgarien, China und Kuba.
In Wien übernahm sie zunächst Aufträge für Wohnungsbauten,
Kleingartensiedlungen, Kindergärten und eine Werkbundsiedlung. In Frankfurt
trug sie dazu bei, unter Ernst May eine Großstadtutopie wahr werden zu lassen.
In der UdSSR wurde sie zur Spezialistin für Kinderbauten (Schulen und
Kindergärten) und war am Aufbau neuer Industriestädte beteiligt. Im Exil in
Istanbul arbeitete sie weiter im Bereich Kinderbauten und wurde Mitglied einer
verdeckten antifaschistischen Widerstandsbewegung, bis man sie im damals an das
Deutsche Reich „angeschlossene“ Österreich inhaftierte. Bis zum Ende des
Zweiten Weltkrieges blieb sie unter unmenschlichsten Bedingungen in einem
Zuchthaus für Frauen in Haft und überlebte.
In Sofia wurde sie später Abteilungsleiterin für Kinderanstalten der
Baudirektion, neben anderen Aufträgen in Österreich, Kuba und Berlin. 1977
erhält sie die Joliot-Curie-Medaille für ihre Leistungen in der
Weltfriedensbewegung und 1980 den Architekturpreis der Stadt Wien. 1991 bringt
sie ihre Expertise für Wohnbauprojekte anlässlich der EXPO 1995 ein.
In der westlichen Welt hatte sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der
Kommunistischen Partei Österreichs trotz ihres Renommees Schwierigkeiten,
Aufträge als Architektin zu erhalten. Sogar bei der Ehrung nach ihrem Tod
erwies sich ihre politische Überzeugung lange als Hindernis.
Fünf Tage vor ihrem 103. Geburtstag stirbt Schütte-Lihotzky in Wien. Ihr
Pioniergeist, ihr Mut zur Veränderung und ihr architektonisches Vermächtnis
sind bis in unsere Gegenwart lebendig geblieben.
Gemeinsam Zukunft denken
Vor 150 Jahren hatte Schütte-Lihotzky in Frankfurt den Traum, dass bezahlbarer
Wohnraum und eine Stadt für alle zum gesellschaftlichen Standard werden. Ein
Traum, der bis heute nichts an Aktualität und Bedeutung eingebüßt hat.
Schütte-Lihotzkys Frankfurter Küche erinnert daran, wie viel Mut und
Beharrlichkeit es bedarf – damals wie heute – ein „Neues Frankfurt“ zu wagen.
Die Frankfurter Küche symbolisiert bis in unsere Gegenwart hinein die
politische Vision sozialer Gerechtigkeit. Schütte-Lihotzkys Anspruch, mit ihrer
Arbeit eine bessere Welt zu hinterlassen, fasste sie 1993 selbst so zusammen: „Es
war mir immer wesentlich in meinem Beruf und auch außerhalb desselben mit allen
meinen kleinen Miniminikräften dazu beizutragen, daß ich schließlich aus einer
besseren Welt scheide als diejenige, in die ich hineingeboren war.“
Text: Lily Gaines
Infos
Ein Original der Frankfurter Küche ist im Museum Angewandte Kunst, Schaumainkai 17, zu sehen. Dafür hat Christian Dressen in aufwendiger und langwieriger Arbeit eine Frankfurter Küche aus dem Jahr 1929 restauriert, die aus einer Wohnung in der Siedlung Bornheimer Hang in der Wittelsbacher Allee stammt. Die Gebrauchsspuren hat er bewusst sichtbar gelassen, die Originallackierung darüber hinaus wieder freigelegt. Auch die originalen Wandfliesen und Solnhofener Platten im Fußbodenbereich wurden mit verbaut.Im Museum Angewandte Kunst sind ab Freitag, 9. Mai, zwei Ausstellungen zum Thema „Neues Frankfurt“ zu sehen: „Was war das Neue Frankfurt? Kernfragen zum Stadtplanungsprogramm der 1920er Jahre“External Link und „Yes, we care. Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem GemeinwohlExternal Link“.