100 Jahre Neues Frankfurt
„Den Machern des Neuen Frankfurt ging es um das Leben in einer modernen Stadt“
2025 feiert die Stadt 100 Jahre Neues Frankfurt. Im Interview sprechen Ina Hartwig, Dezernentin für Kultur- und Wissenschaft, und Marcus Gwechenberger, Dezernent für Planen und Wohnen, darüber, wie das legendäre Stadterneuerungsprogramm ihre tägliche Arbeit beeinflusst. Zudem zieht das Duo überraschende Parallelen zu heutigen Herausforderungen und gibt Tipps, was man im Jubiläumsjahr nicht verpassen sollte.

Frau Hartwig, Herr Gwechenberger, wie wirkt die Idee des Neuen Frankfurt kulturell und städtebaulich noch heute nach?
INA HARTWIG: Mich fasziniert der ganzheitliche Ansatz des Neuen Frankfurt: Die
Mentalität, mit der Ernst May und sein Team arbeiteten, umfasste ja nicht nur
das Planen und Bauen von Häusern, sondern reichte bis zum modernisierten
Briefpapier des Magistrats. Mitten in der Weimarer Republik, einer höchst
innovativen Zeit, ist in Frankfurt ein Antagonismus zu den reaktionären Kräften
der Republik entstanden. Das Neue Frankfurt wollte Menschen helfen, sich selbst
zu organisieren und individuelle Freiheit zu erfahren. Die Idee der Frankfurter
Küche war in diesem Sinne vom Gedanken der Effizienz getrieben. Es sollten jene
entlastet werden, die in der Küche stehen. Und das waren in der Regel Frauen,
denen sich neue Möglichkeiten der Teilnahme am Berufsleben eröffneten. Die
Gärten an den Häusern des Neuen Frankfurt waren so geplant, dass es Parzellen
zum Obst- und Gemüse-Anbau und somit die Möglichkeit der Selbstversorgung geben
sollte. Und auch das Angebot eines Frankfurter Radios, also eines Mediums, das
bis in die Wohnzimmer der Menschen reichte und sie mit verlässlichen
Informationen versorgte, verdeutlicht den ganzheitlichen gesellschaftlichen Ansatz
des Neuen Frankfurt und ist gerade auch vor dem Hintergrund der heutigen
Medienlandschaft und digitalen Echokammern bemerkenswert.
MARCUS GWECHENBERGER: Für mich
wurden durch das Neue Frankfurt die wesentlichen Grundlagen unserer weltoffenen
und internationalen Stadt gelegt: Ludwig Landmann und sein Team haben damals
prägende Leitlinien erarbeitet, die bis heute Bestand haben – darunter die
Entscheidung, den Flughafen und modernste Mobilitätsformen wie den Schienen-
und Autoverkehr zu fördern. Ein wesentlicher Aspekt war hierbei, die Stadt und
den Freiraum zusammenzudenken. So geht auch unser heutiger Grüngürtel auf die
Zeit des Neuen Frankfurt zurück: Damals wurde die bewusste Entscheidung
getroffen, nah am Stadtgebiet Flächen für Erholung und Sport zu schaffen. Aus
heutiger Sicht könnte man sagen, dass damit bereits ein Gedanke der
15-Minuten-Stadt vorweggenommen wurde – wenn auch noch nicht perfekt, denn
damals folgte man noch stark dem Leitbild der Funktionstrennung, also der
räumlichen Trennung von Wohnen und Arbeiten. Doch die Grundüberlegung war schon
vorhanden: dass Wohnen, Freiraum, Kultur, Bildung und Sport in enger
Nachbarschaft liegen müssen, um in den Quartieren eine hohe Lebensqualität zu
sichern. Dieser Gedanke, dass es nicht nur ums Wohnen, sondern ums Leben geht,
wurde schon damals klar formuliert und dient uns bis heute als Richtschnur für
unser weiteres Handeln.
Attraktive Wohnbedingungen zu schaffen sowie Stadt und Freiraum gemeinsam zu
denken sind für uns wichtige Prinzipien, nach denen wir auch unseren jüngsten
Stadtteil planen. Besonders die Ideen der Fußläufigkeit, der Nachbarschaften
und der konsumfreien Orte sind zentrale Elemente dieses kulturellen Erbes.
Inwiefern ist Ihre Arbeit vom Erbe des Neuen Frankfurt geprägt?
Die Bauten des Neuen Frankfurt haben uns ein wertvolles kulturelles Erbe
hinterlassen. Zu dieser Zeit wurden nicht nur Wohnsiedlungen, sondern auch Kirchen,
die Großmarkthalle, das Stadionbad und das Stadion im Stadtwald gebaut. Wichtig
zu erwähnen ist auch, dass das Neue Frankfurt den Blick auf die Region
richtete. Es gab klare Bestrebungen, eine bessere Zusammenarbeit mit der Region
zu erreichen. Für mich ist die stadtregionale Kooperation auch heute noch eine
wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung unserer Stadt.
HARTWIG: Als Dezernentin für Kultur und Wissenschaft bin ich vor allem
fasziniert davon, wie das Neue Frankfurt Elemente der Reformbewegung und der
Moderne architektonisch und gestalterisch vermengt und umsetzt. Vor etwas mehr
als 100 Jahren wurde nicht zufällig der Frauensport „erfunden“. Die Reformer
trachteten generell danach, den Körper zu befreien – sie hielten das für ein
Gesundheitsprogramm, was es meiner Meinung nach auch war. In manchen Siedlungen
des Neuen Frankfurt gibt es heute noch Dachterrassen mit Stangen für Vorhänge.
Die Bewohnerinnen und Bewohnern sollten sich in privater Atmosphäre, ungestört
von fremden Blicken, sonnen können, auch das zu verstehen als Akt der Freiheit
und der Emanzipation. Zusammen mit den Gärten vor der eigenen Haustür und der
Frankfurter Küche kann dies als eine Möglichkeit verstanden werden, sich von
der Enge der Altstadtbebauung und dem Dunkel der Wohnhöhlen zu befreien.
Binnen weniger Jahre entstanden unter Ernst May in Frankfurt 12.000 Wohnungen. Ist ein vergleichbares städtebauliches Großprojekt heute überhaupt denkbar, geschweige denn zu finanzieren?
GWECHENBERGER: Das war eine
außergewöhnliche Leistung unter schwierigen Bedingungen und die Fragen waren
damals ähnlich wie heute: Brauchen wir überhaupt Wachstum? Benötigen wir neue
Wohnungen? Soll man weitere Flächen bebauen? Unsere Neubauzahlen sind durchaus
vergleichbar mit den 1920er Jahren – in den letzten fünf Jahren haben wir rund
19.000 Wohnungen fertiggestellt. Für uns stehen neben den Zahlen die Fragen im
Mittelpunkt, wie diese Wohnungen dauerhaft bezahlbar bleiben und wie aus ihnen
funktionierende Quartiere entstehen.
Aus meiner Sicht ist es bei der Stadtentwicklung wichtig, immer kurz-, mittel-
und langfristige Perspektiven zu haben. Das bedeutet: Es müssen Projekte
realisiert werden, die sich schon heute umsetzen lassen, weitere, die in drei
bis vier Jahren baureif sein werden, und solche, die in fünf bis zehn Jahren
gebaut werden können. Darauf arbeiten wir in Frankfurt hin, denn so kann man
auch akzeptieren, dass ein Projekt Zeit braucht. Gute Stadtplanung braucht eben
Zeit. Im vergangenen Jahr ist es uns in Frankfurt gelungen, entgegen dem
Landestrend deutlich mehr Wohnungen fertigzustellen als im Jahr zuvor.
HARTWIG: Ich finde das Tempo der politischen Beschlüsse und der Realisierung
beeindruckend. So soll etwa die Großmarkthalle binnen eines Jahres gebaut
worden sein. Stadtkämmerer Bruno Asch, Oberbürgermeister Ludwig Landmann sowie
Siedlungsdezernent Ernst May haben als kongeniales Team ein Momentum erkannt
und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit an die Umsetzung ihrer Pläne
gemacht. Das ist vielleicht allenfalls vergleichbar mit der Zeit, als unter Hilmar
Hoffmann das Museumsufer entstand.
GWECHENBERGER: Ich sehe durchaus Parallelen dazu, wie unsere aktuelle Koalition
ressort- und parteiübergreifend wegweisende Entscheidungen wie zum Neubau des
Schauspiels oder der Errichtung der Multifunktionshalle vorantreibt. Auch
hiervon wird die Stadt in Zukunft maßgeblich profitieren.
HARTWIG: Die aktuelle Dynamik deutet tatsächlich darauf hin, dass wir heute die
Weichen für eine neue Zeit stellen müssen, in der wir von der Mobilität über
Kultur im öffentlichen Raum bis hin zu der Frage, wo und wann wir arbeiten
wollen, gute Wege in die Zukunft dieser Stadt aufzeigen müssen.
Serielles Bauen und vereinfachte Standards sind derzeit wieder in aller Munde, um gerade in Ballungsräumen dringend benötigten günstigen Wohnraum zu schaffen. Herr Gwechenberger, ist das Neue Frankfurt hier eine geeignete Blaupause?
GWECHENBERGER: Das Neue
Frankfurt war eine Zeit, die von Rationalisierung geprägt war. Auch heute haben
wir eine hohe Standardisierung im Wohnungsbau, die in gewisser Weise an das
Neue Frankfurt erinnert: Viele Elemente – wie Fenster, Balkone oder Bäder –
werden in großen Mengen günstiger produziert und sehen dann natürlich ähnlich
aus. Um Kosten zu senken und zugleich mehr Vielfalt zu ermöglichen, versuchen
wir einerseits, die serielle Bauweise aus der Zeit des Neuen Frankfurt zu
übernehmen, andererseits aber auch Monotonie zu vermeiden, indem wir
beispielsweise Grundstücke wieder stärker parzellieren.
Eine wesentliche Schwäche des Neuen Frankfurt war sicher die zu strikte
Trennung zwischen Wohnen, Freizeit und Arbeit – was allerdings der damaligen
Zeit und den mit heute nicht vergleichbaren Arbeitsbedingungen geschuldet war.
Ein weiterer Unterschied im Wohnungsbau ist, dass wir heute mit einer
wesentlich höheren Dichte arbeiten als den für das Neue Frankfurt typischen
zweigeschossigen Wohneinheiten.
Vor 100 Jahren fand mit dem Neuen Frankfurt eine städtebauliche Revolution statt, die bis heute das Frankfurter Stadtbild prägt. Welche Bauwerke sind für Sie besonders herausragend?
HARTWIG: Die Großmarkthalle
finde ich einfach toll, wie sie in ihrer heutigen Form mit dem EZB-Turm eine
Brücke zwischen Alt und Neu schlägt. Auch das Stadionbad gefällt mir sehr, es
ist eine äußerst gelungene Anlage, die bis heute in ihrer Funktion überzeugt.
GWECHENBERGER: Die Römerstadt mit der markanten Bastionsmauer und dem
besonderen Zusammenspiel von Siedlungsbau und Freiraum ragt für mich
städtebaulich und architektonisch heraus. Sie ist ein wunderbares und
einzigartiges Zeugnis des Neuen Frankfurt.
Auf das Neue Frankfurt folgten weitere architektonische Stile wie der Brutalismus oder auch die im Stil der Internationalen Moderne errichteten Eiermann-Türme, die noch immer Teile des Stadtbildes prägen. Ist es eher Last oder Ehre, diese architektonischen Ikonen in die Moderne zu überführen?
HARTWIG: Mir ist hier der
Aspekt der Nachhaltigkeit wichtig. Ich habe beispielsweise erst durch meine
Zeit in Frankfurt die Architektur der 1950er Jahre für mich entdeckt. Damals
wurde mit guten, sehr feinen Proportionen gearbeitet. Die Wohnungen aus dieser
Zeit haben große Fenster, damit viel Licht, was ich liebe. Als ehemaliger
Redakteurin der Frankfurter Rundschau blutet mir noch immer das Herz, wenn ich
daran denke, dass das Rundschau-Haus an der Ecke Große Eschenheimer
Straße/Stiftstraße abgerissen wurde. Das würde man heute wohl nicht mehr
machen. Es war ein großartiges Architekturbeispiel aus den fünfziger Jahren,
angelehnt an das berühmte Mosse-Zeitungshaus in Berlin, mit der ersten
Leuchtschrift der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg, im Inneren ausgestattet mit
einem wunderschönen Paternoster und einem famosen Rohrpost-System: alles weg.
GWECHENBERGER: Wir sollten jeder Zeitschicht, die Frankfurt geprägt hat, mit
Respekt begegnen. Interessant ist, dass Gebäude, die 40 bis 60 Jahre alt sind,
oft einen schlechten Ruf haben und nicht die Anerkennung erhalten, die sie
verdienen. In dieser Debatte spielt natürlich auch der jeweilige Zeitgeist eine
Rolle, aber man darf nicht vergessen, dass sich unsere Sicht auf diese Gebäude
mit der Zeit verändern kann. Warum sollte man also nicht darüber nachdenken,
solche Gebäude – wenigstens in Teilen – zu erhalten und weiterzuentwickeln? Ein
Beispiel hierfür ist das Juridicum in Bockenheim.
Die Stadt feiert 100 Jahre Neues Frankfurt mit einer Vielzahl an Events. Auf welche Veranstaltungen des Jubiläumsjahres freuen Sie sich besonders?
HARTWIG: Es gibt zahlreiche
Ausstellungen zum Thema. Einen guten Überblick gibt es auf der Website neuesfrankfurt100.deExternal Link.
Ein besonderes Highlight wird natürlich das Lampionfest in der
Hellerhofsiedlung am Samstag, 13. September, sein, das seinem
historischen Vorbild von vor 100 Jahren folgen wird (siehe auch frankfurt.de/100-jahre-neues-frankfurt/lampionfesteInternal Link).
Dieser Prozess der Wiederbewusstmachung sorgt schon jetzt dafür, dass wir viel
über unsere Vergangenheit lernen und uns auf ganz neue Weise mit unserer
Geschichte auseinandersetzen. Das ist das Besondere an diesem Jubiläum.
GWECHENBERGER: Die Besonderheit für uns in der Stadtplanung ist, dass viele
aktuelle Projekte wie die Einhausung der A661, der neue Stadtteil der Quartiere
und der Ausbau der kulturellen Infrastruktur der Tradition von Ernst May und
des Neuen Frankfurt folgen und daran anknüpfen. Auch 100 Jahre später stehen
wir erneut an einer historischen Weichenstellung und befinden uns in einer
gesellschaftlichen Transformationsphase. Wichtig ist daher, zu vermitteln, dass
wir mit den begleitenden Ausstellungen und Veranstaltungen nicht nur zurück-,
sondern auch nach vorne blicken wollen.
Interview: Mirco Overländer