Leben in einer modernen Stadt

Leben in einer modernen Stadt

100 Jahre Neues Frankfurt

„Den Machern des Neuen Frankfurt ging es um das Leben in einer modernen Stadt“

2025 feiert die Stadt 100 Jahre Neues Frankfurt. Im Interview sprechen Ina Hartwig, Dezernentin für Kultur- und Wissenschaft, und Marcus Gwechenberger, Dezernent für Planen und Wohnen, darüber, wie das legendäre Stadterneuerungsprogramm ihre tägliche Arbeit beeinflusst. Zudem zieht das Duo überraschende Parallelen zu heutigen Herausforderungen und gibt Tipps, was man im Jubiläumsjahr nicht verpassen sollte.

Planungsdezernent Marcus Gewechenberger und Kulturdezernentin Ina Hartwig während des Interviews im Ernst May Haus, Foto: Michael Braunschädel
Planungsdezernent Marcus Gewechenberger und Kulturdezernentin Ina Hartwig während des Interviews im Ernst May Haus © Stadt Frankfurt am main, Foto: Michael Braunschädel

Frau Hartwig, Herr Gwechenberger, wie wirkt die Idee des Neuen Frankfurt kulturell und städtebaulich noch heute nach?


INA HARTWIG: Mich fasziniert der ganzheitliche Ansatz des Neuen Frankfurt: Die Mentalität, mit der Ernst May und sein Team arbeiteten, umfasste ja nicht nur das Planen und Bauen von Häusern, sondern reichte bis zum modernisierten Briefpapier des Magistrats. Mitten in der Weimarer Republik, einer höchst innovativen Zeit, ist in Frankfurt ein Antagonismus zu den reaktionären Kräften der Republik entstanden. Das Neue Frankfurt wollte Menschen helfen, sich selbst zu organisieren und individuelle Freiheit zu erfahren. Die Idee der Frankfurter Küche war in diesem Sinne vom Gedanken der Effizienz getrieben. Es sollten jene entlastet werden, die in der Küche stehen. Und das waren in der Regel Frauen, denen sich neue Möglichkeiten der Teilnahme am Berufsleben eröffneten. Die Gärten an den Häusern des Neuen Frankfurt waren so geplant, dass es Parzellen zum Obst- und Gemüse-Anbau und somit die Möglichkeit der Selbstversorgung geben sollte. Und auch das Angebot eines Frankfurter Radios, also eines Mediums, das bis in die Wohnzimmer der Menschen reichte und sie mit verlässlichen Informationen versorgte, verdeutlicht den ganzheitlichen gesellschaftlichen Ansatz des Neuen Frankfurt und ist gerade auch vor dem Hintergrund der heutigen Medienlandschaft und digitalen Echokammern bemerkenswert.

MARCUS GWECHENBERGER: Für mich wurden durch das Neue Frankfurt die wesentlichen Grundlagen unserer weltoffenen und internationalen Stadt gelegt: Ludwig Landmann und sein Team haben damals prägende Leitlinien erarbeitet, die bis heute Bestand haben – darunter die Entscheidung, den Flughafen und modernste Mobilitätsformen wie den Schienen- und Autoverkehr zu fördern. Ein wesentlicher Aspekt war hierbei, die Stadt und den Freiraum zusammenzudenken. So geht auch unser heutiger Grüngürtel auf die Zeit des Neuen Frankfurt zurück: Damals wurde die bewusste Entscheidung getroffen, nah am Stadtgebiet Flächen für Erholung und Sport zu schaffen. Aus heutiger Sicht könnte man sagen, dass damit bereits ein Gedanke der 15-Minuten-Stadt vorweggenommen wurde – wenn auch noch nicht perfekt, denn damals folgte man noch stark dem Leitbild der Funktionstrennung, also der räumlichen Trennung von Wohnen und Arbeiten. Doch die Grundüberlegung war schon vorhanden: dass Wohnen, Freiraum, Kultur, Bildung und Sport in enger Nachbarschaft liegen müssen, um in den Quartieren eine hohe Lebensqualität zu sichern. Dieser Gedanke, dass es nicht nur ums Wohnen, sondern ums Leben geht, wurde schon damals klar formuliert und dient uns bis heute als Richtschnur für unser weiteres Handeln.

Attraktive Wohnbedingungen zu schaffen sowie Stadt und Freiraum gemeinsam zu denken sind für uns wichtige Prinzipien, nach denen wir auch unseren jüngsten Stadtteil planen. Besonders die Ideen der Fußläufigkeit, der Nachbarschaften und der konsumfreien Orte sind zentrale Elemente dieses kulturellen Erbes.

 

Planungsdezernent Gewechenberger und Kulturdezerntin Hartwig im Garten des Ernst May Hauses, Foto: Michael Braunschädel
Planungsdezernent Gewechenberger und Kulturdezernentin Hartwig im Garten des Ernst May Hauses © Stadt Frankfurt am Main, Foto: Michael Braunschädel

Inwiefern ist Ihre Arbeit vom Erbe des Neuen Frankfurt geprägt?

Die Bauten des Neuen Frankfurt haben uns ein wertvolles kulturelles Erbe hinterlassen. Zu dieser Zeit wurden nicht nur Wohnsiedlungen, sondern auch Kirchen, die Großmarkthalle, das Stadionbad und das Stadion im Stadtwald gebaut. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass das Neue Frankfurt den Blick auf die Region richtete. Es gab klare Bestrebungen, eine bessere Zusammenarbeit mit der Region zu erreichen. Für mich ist die stadtregionale Kooperation auch heute noch eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung unserer Stadt.

HARTWIG: Als Dezernentin für Kultur und Wissenschaft bin ich vor allem fasziniert davon, wie das Neue Frankfurt Elemente der Reformbewegung und der Moderne architektonisch und gestalterisch vermengt und umsetzt. Vor etwas mehr als 100 Jahren wurde nicht zufällig der Frauensport „erfunden“. Die Reformer trachteten generell danach, den Körper zu befreien – sie hielten das für ein Gesundheitsprogramm, was es meiner Meinung nach auch war. In manchen Siedlungen des Neuen Frankfurt gibt es heute noch Dachterrassen mit Stangen für Vorhänge. Die Bewohnerinnen und Bewohnern sollten sich in privater Atmosphäre, ungestört von fremden Blicken, sonnen können, auch das zu verstehen als Akt der Freiheit und der Emanzipation. Zusammen mit den Gärten vor der eigenen Haustür und der Frankfurter Küche kann dies als eine Möglichkeit verstanden werden, sich von der Enge der Altstadtbebauung und dem Dunkel der Wohnhöhlen zu befreien.

 

Binnen weniger Jahre entstanden unter Ernst May in Frankfurt 12.000 Wohnungen. Ist ein vergleichbares städtebauliches Großprojekt heute überhaupt denkbar, geschweige denn zu finanzieren?

GWECHENBERGER: Das war eine außergewöhnliche Leistung unter schwierigen Bedingungen und die Fragen waren damals ähnlich wie heute: Brauchen wir überhaupt Wachstum? Benötigen wir neue Wohnungen? Soll man weitere Flächen bebauen? Unsere Neubauzahlen sind durchaus vergleichbar mit den 1920er Jahren – in den letzten fünf Jahren haben wir rund 19.000 Wohnungen fertiggestellt. Für uns stehen neben den Zahlen die Fragen im Mittelpunkt, wie diese Wohnungen dauerhaft bezahlbar bleiben und wie aus ihnen funktionierende Quartiere entstehen.

Aus meiner Sicht ist es bei der Stadtentwicklung wichtig, immer kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven zu haben. Das bedeutet: Es müssen Projekte realisiert werden, die sich schon heute umsetzen lassen, weitere, die in drei bis vier Jahren baureif sein werden, und solche, die in fünf bis zehn Jahren gebaut werden können. Darauf arbeiten wir in Frankfurt hin, denn so kann man auch akzeptieren, dass ein Projekt Zeit braucht. Gute Stadtplanung braucht eben Zeit. Im vergangenen Jahr ist es uns in Frankfurt gelungen, entgegen dem Landestrend deutlich mehr Wohnungen fertigzustellen als im Jahr zuvor.

HARTWIG: Ich finde das Tempo der politischen Beschlüsse und der Realisierung beeindruckend. So soll etwa die Großmarkthalle binnen eines Jahres gebaut worden sein. Stadtkämmerer Bruno Asch, Oberbürgermeister Ludwig Landmann sowie Siedlungsdezernent Ernst May haben als kongeniales Team ein Momentum erkannt und sich mit unglaublicher Geschwindigkeit an die Umsetzung ihrer Pläne gemacht. Das ist vielleicht allenfalls vergleichbar mit der Zeit, als unter Hilmar Hoffmann das Museumsufer entstand.

GWECHENBERGER: Ich sehe durchaus Parallelen dazu, wie unsere aktuelle Koalition ressort- und parteiübergreifend wegweisende Entscheidungen wie zum Neubau des Schauspiels oder der Errichtung der Multifunktionshalle vorantreibt. Auch hiervon wird die Stadt in Zukunft maßgeblich profitieren.

HARTWIG: Die aktuelle Dynamik deutet tatsächlich darauf hin, dass wir heute die Weichen für eine neue Zeit stellen müssen, in der wir von der Mobilität über Kultur im öffentlichen Raum bis hin zu der Frage, wo und wann wir arbeiten wollen, gute Wege in die Zukunft dieser Stadt aufzeigen müssen.

Viel Platz auf kleinem Raum: Kulturdezernentin Ina Hartwig und Planungsdezernent Marcus Gewechenberger testen die Funktionalität der Frankfurter Küche, Foto: Michael Braunschädel
Viel Platz auf kleinem Raum: Kulturdezernentin Ina Hartwig und Planungsdezernent Marcus Gewechenberger testen die Funktionalität der Frankfurter Küche © Stadt Frankfurt am Main, Foto: Michael Braunschädel

Serielles Bauen und vereinfachte Standards sind derzeit wieder in aller Munde, um gerade in Ballungsräumen dringend benötigten günstigen Wohnraum zu schaffen. Herr Gwechenberger, ist das Neue Frankfurt hier eine geeignete Blaupause?

GWECHENBERGER: Das Neue Frankfurt war eine Zeit, die von Rationalisierung geprägt war. Auch heute haben wir eine hohe Standardisierung im Wohnungsbau, die in gewisser Weise an das Neue Frankfurt erinnert: Viele Elemente – wie Fenster, Balkone oder Bäder – werden in großen Mengen günstiger produziert und sehen dann natürlich ähnlich aus. Um Kosten zu senken und zugleich mehr Vielfalt zu ermöglichen, versuchen wir einerseits, die serielle Bauweise aus der Zeit des Neuen Frankfurt zu übernehmen, andererseits aber auch Monotonie zu vermeiden, indem wir beispielsweise Grundstücke wieder stärker parzellieren.

Eine wesentliche Schwäche des Neuen Frankfurt war sicher die zu strikte Trennung zwischen Wohnen, Freizeit und Arbeit – was allerdings der damaligen Zeit und den mit heute nicht vergleichbaren Arbeitsbedingungen geschuldet war. Ein weiterer Unterschied im Wohnungsbau ist, dass wir heute mit einer wesentlich höheren Dichte arbeiten als den für das Neue Frankfurt typischen zweigeschossigen Wohneinheiten.

 

Vor 100 Jahren fand mit dem Neuen Frankfurt eine städtebauliche Revolution statt, die bis heute das Frankfurter Stadtbild prägt. Welche Bauwerke sind für Sie besonders herausragend?

HARTWIG: Die Großmarkthalle finde ich einfach toll, wie sie in ihrer heutigen Form mit dem EZB-Turm eine Brücke zwischen Alt und Neu schlägt. Auch das Stadionbad gefällt mir sehr, es ist eine äußerst gelungene Anlage, die bis heute in ihrer Funktion überzeugt.

GWECHENBERGER: Die Römerstadt mit der markanten Bastionsmauer und dem besonderen Zusammenspiel von Siedlungsbau und Freiraum ragt für mich städtebaulich und architektonisch heraus. Sie ist ein wunderbares und einzigartiges Zeugnis des Neuen Frankfurt. 

Design-Ikone und Vorreiter der Einbauküche: Ein voll funktionstüchtiges Exemplar der Frankfurter Küche findet sich im Ernst May Haus in der Römerstadt, Foto: Michael Braunschädel
Design-Ikone und Vorreiter der Einbauküche: Ein voll funktionstüchtiges Exemplar der Frankfurter Küche findet sich im Ernst May Haus in der Römerstadt © Stadt Frankfurt am Main, Foto: Michael Braunschädel

Auf das Neue Frankfurt folgten weitere architektonische Stile wie der Brutalismus oder auch die im Stil der Internationalen Moderne errichteten Eiermann-Türme, die noch immer Teile des Stadtbildes prägen. Ist es eher Last oder Ehre, diese architektonischen Ikonen in die Moderne zu überführen?

HARTWIG: Mir ist hier der Aspekt der Nachhaltigkeit wichtig. Ich habe beispielsweise erst durch meine Zeit in Frankfurt die Architektur der 1950er Jahre für mich entdeckt. Damals wurde mit guten, sehr feinen Proportionen gearbeitet. Die Wohnungen aus dieser Zeit haben große Fenster, damit viel Licht, was ich liebe. Als ehemaliger Redakteurin der Frankfurter Rundschau blutet mir noch immer das Herz, wenn ich daran denke, dass das Rundschau-Haus an der Ecke Große Eschenheimer Straße/Stiftstraße abgerissen wurde. Das würde man heute wohl nicht mehr machen. Es war ein großartiges Architekturbeispiel aus den fünfziger Jahren, angelehnt an das berühmte Mosse-Zeitungshaus in Berlin, mit der ersten Leuchtschrift der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg, im Inneren ausgestattet mit einem wunderschönen Paternoster und einem famosen Rohrpost-System: alles weg.

GWECHENBERGER: Wir sollten jeder Zeitschicht, die Frankfurt geprägt hat, mit Respekt begegnen. Interessant ist, dass Gebäude, die 40 bis 60 Jahre alt sind, oft einen schlechten Ruf haben und nicht die Anerkennung erhalten, die sie verdienen. In dieser Debatte spielt natürlich auch der jeweilige Zeitgeist eine Rolle, aber man darf nicht vergessen, dass sich unsere Sicht auf diese Gebäude mit der Zeit verändern kann. Warum sollte man also nicht darüber nachdenken, solche Gebäude – wenigstens in Teilen – zu erhalten und weiterzuentwickeln? Ein Beispiel hierfür ist das Juridicum in Bockenheim.

Die Stadt feiert 100 Jahre Neues Frankfurt mit einer Vielzahl an Events. Auf welche Veranstaltungen des Jubiläumsjahres freuen Sie sich besonders?

HARTWIG: Es gibt zahlreiche Ausstellungen zum Thema. Einen guten Überblick gibt es auf der Website neuesfrankfurt100.deExternal Link. Ein besonderes Highlight wird natürlich das Lampionfest in der Hellerhofsiedlung am Samstag, 13. September, sein, das seinem historischen Vorbild von vor 100 Jahren folgen wird (siehe auch frankfurt.de/100-jahre-neues-frankfurt/lampionfesteInternal Link). Dieser Prozess der Wiederbewusstmachung sorgt schon jetzt dafür, dass wir viel über unsere Vergangenheit lernen und uns auf ganz neue Weise mit unserer Geschichte auseinandersetzen. Das ist das Besondere an diesem Jubiläum.

GWECHENBERGER: Die Besonderheit für uns in der Stadtplanung ist, dass viele aktuelle Projekte wie die Einhausung der A661, der neue Stadtteil der Quartiere und der Ausbau der kulturellen Infrastruktur der Tradition von Ernst May und des Neuen Frankfurt folgen und daran anknüpfen. Auch 100 Jahre später stehen wir erneut an einer historischen Weichenstellung und befinden uns in einer gesellschaftlichen Transformationsphase. Wichtig ist daher, zu vermitteln, dass wir mit den begleitenden Ausstellungen und Veranstaltungen nicht nur zurück-, sondern auch nach vorne blicken wollen.

Interview: Mirco Overländer

 

 

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