Buchempfehlungen Winter 2022 Teil 1
Wenn das Wetter mies und die Abende lang sind, empfiehlt sich als Sportart das Umblättern von Buchseiten. Angesichts des Gedenkens an den 175. Jahrestag der Eröffnung des ersten freigewählten deutschen Parlaments im kommenden Jahr nimmt es nicht Wunder, dass etliche neue Publikationen diese Ereignisse in den Blickpunkt rücken. Viele Jahrhunderte, gar Jahrtausende blicken die Archäologen zurück in die Vergangenheit, in der auch Krimiautoren ebenso fündig werden wie in der politischen Gegenwart der Mainmetropole. Und zu entdecken gibt es in dieser Stadt immer etwas.
Frankfurt stand im September auf
Zur Einstimmung auf die zahlreichen Veranstaltungen des revolutionären
Jubiläumsjahres präsentiert das Institut für Stadtgeschichte noch bis September
kommenden Jahres eine Ausstellung, die das Revolutionsgeschehen aus der
Perspektive der Stadt Frankfurt schildert und die Frankfurter Protagonisten,
Schauplätze und Besonderheiten hervorhebt.
Die Freie Stadt war keineswegs nur Bühne und Austragungsort landesweiter
Ereignisse. Vielmehr war die Einwohnerschaft in vielerlei Weise selbst
involviert, nicht zuletzt, um die antiquierten politischen Verhältnisse im
Römer in Bewegung zu bringen. Das Paulskirchenparlament war ihnen dabei keine
große Hilfe, denn viel zu sehr war man dort auf das Funktionieren der
Stadtregierung angewiesen, als dass man diese durch einen Umsturz mattsetzen
wollte.
Gewaltsam zur Sache ging es dann doch noch im September 1848, und so steht
dieser „Septemberaufstand“ im Fokus des reich illustrierten Buches. Es
zeichnet dessen Vorgeschichte, Verlauf und Folgen nach und ordnet das Geschehen
vor Ort in den gesamtdeutschen Kontext ein. Den Autoren, Historiker am Institut
für Stadtgeschichte, ist damit zugleich eine Frankfurter Geschichte des
Revolutionsgeschehens und eine übersichtliche Einführung in die Thematik
gelungen, die dank der vielen Abbildungen viel Zeitgeist und Zeitkolorit
vermittelt.
Markus Häfner / Thomas Bauer: Auf die Barrikaden! Paulskirchenparlament und
Revolution 1848/49 in Frankfurt, Henrich Editionen 2022, 87 Seiten, 18
Euro
Eine Straße neu entdecken
Ein wenig übertreibt der Titel: Keine Meile, gerade einmal 302 Meter misst die
Braubachstraße im Herzen der Frankfurter Innenstadt. Und das auch noch nicht
allzu lange. Vor etwas mehr als einhundert Jahren wurde diese Schneise nicht
gerade, sondern in einer geschwungenen S-Form durch die damals zum Slum
verkommene Altstadt geschlagen und alsbald von Straßenbahnschienen durchzogen.
Heute bildet sie die zahlreichen Facetten der Mainmetropole ab. Auf engstem
Raum bieten Antiquariate, ein Museum sowie Galerien exquisite Kunst und mehrere
Cafès und Restaurants feinste Gaumenfreuden an, können in Geschäften selbst
Angler und Autofreunde fündig werden, gibt es Blumen, Biokost, Mode und das
dazu passende Geschmeide. Von hier aus werden in diversen Behörden die Geschicke
der Stadt gelenkt, die Buchmesse gesteuert, fördern Stiftungen Bildung, Kultur
und Soziales – und nicht zuletzt wird im urbanen Milieu gewohnt und in der
neuen Altstadt flaniert.
All dies und noch einiges mehr lässt die Autorin in knappen, illustrierten
Texten lebendig werden, stellt in Porträts die Protagonistinnen – es handelt
sich in der Tat mehrheitlich um Frauen – vor, greift in die bisweilen
abenteuerliche Geschichte zurück und bietet Zahlen und Fakten. Nach der Lektüre
dieses Straßenführers wird man diese oft durch- und überquerte Frankfurter
Häuserzeile gewiss mit anderen Augen sehen.
Dagmar Priepke: Die Braubachstraße. Eine urbane Meile in Frankfurt, Axel
Dielmann-Verlag 2022, 184 Seiten, 20 Euro
Giftmörder zur Strecke bringen
Ein Abend im Schumann-Theater hatte gereicht, und ein junger Adliger war dem
Fechtartisten in seiner Fantasie-Uniform restlos verfallen. Zunächst voller
Eifersucht, dann immer argwöhnischer verfolgt seine Schwester, wie ihr der
Zwillingsbruder immer mehr entgleitet. Bald kommen mysteriöse Geldgeschäfte
dazu. Die frischgebackene Ärztin geht der Sache nach, sucht sich Hilfe bei
einem psychiatrisch erfahrenen Kollegen und einem Privatdetektiv, die immer
neue Ungeheuerlichkeiten aufdecken. Als ihr Bruder schließlich auf rätselhafte
Weise ums Leben kommt, riskiert sie Kopf und Kragen, um dem Täter das Handwerk
zu legen.
Die Autorin zahlreicher historischer Krimis hat hier den gut dokumentierten
Fall des Frankfurter Giftmörders Karl Hopf in eine fiktive Handlung verwoben,
der 1914 wegen mehrerer Morde und Mordversuche an Familienmitgliedern
hingerichtet wurde. Dabei ging es zumeist darum, Erbschaften oder
Lebensversicherungen zu kassieren, die der hochmanipulative Verbrecher für
sexuelle Ausschweifungen ausgab.
Entsprechend treten zahlreiche historische Persönlichkeiten wie der Psychiater
und Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann auf, man durchquert die
gründerzeitlichen Stadtviertel, taucht in die Moden und Marotten jener
Vorkriegsjahre wie die Tango-Manie oder die Kunstrichtung der Dècadence
ein und verfolgt, wie der wissenschaftliche Fortschritt in Medizin, Chemie und
Psychologie schließlich dazu beitragen, den Täter zu überführen.
Ursula Neeb: Weihrauch, Societäts-Verlag 2022, 303 Seiten, 15 Euro
Redde, schbreche und onnerhaale
Sobald von „Hessisch“ als deutschem Dialekt die Rede ist, fällt den meisten Zuhörern wohl als erstes der Sprachklang entlang des Mains ein, der als „Medienhessisch“ die Wahrnehmung des Hessenmundwerks innerhalb und außerhalb des Bundeslandes prägt. Tatsächlich aber wird in Hessen eine Vielzahl von recht unterschiedlichen Dialektvarianten gesprochen, die sich oft, weder unter einander, noch von benachbarten Bundesländern trennscharf abgrenzen lassen. Daher bezeichnet der Autor unser Land auch als das „komplexeste Dialektgebiet auf deutschem Boden“.
Gerade die Sprachgeografie des Rhein-Main-Gebietes hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Hier sind infolge der ausgeprägten Bevölkerungsbewegungen die lokalen Dialekte im Begriff, von einem neuen „Rhein-Main-Regiolekt“ überlagert zu werden, in dem das klassische „Frankfodderisch“ eines Friedrich Stoltze nur eines von zahlreichen Elementen darstellt.
Anhand alphabetisch geordneter Stichwörter nähert sich der Hamburger Linguistikprofessor der hessischen Sprachvielfalt aus unterschiedlichen Richtungen an. Sprachgrenzen, Lautverschiebungen, Bedeutungs- und Aussprachevarianten werden ebenso an zahlreichen Beispielen und Anekdoten erörtert wie grammatische Besonderheiten und sprachgeschichtliche Entwicklungen – und das alles mit wissenschaftlichem Anspruch, aber auf äußerst vergnügliche und flott zu lesende Weise.
Lars Vorberger: Hessisch. Vom Babbeln und Schnuddeln, Dudenverlag 2022, 127 Seiten, 12 Euro
Dem Untergrund seine Geheimnisse entlocken
Frankfurts Geschichte beginnt nicht erst mit Karl dem Großen, und nicht einmal
die Römer waren die ersten an Main und Nidda. Bis ins sechste vorchristliche
Jahrtausend reichen die Besiedlungsspuren am Domhügel zurück, und rund 450 Grabhügel
sowie ausgedehnte Gräberfelder in Harheim zeugen vor allem in der Bronze- und
Eisenzeit von einer dichten keltischen Besiedlung. Sobald man in Frankfurt
einen Spaten in den Boden senkt, kann man sicher sein, auf Hinterlassenschaften
dieser Altvorderen zu stoßen.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als das Zeitalter der Aufklärung das Interesse
an der Archäologie weckte, begann man, solche Funde aufzubewahren, nach dem
jeweiligen Stand der Wissenschaft zu untersuchen und einzuordnen. Manches ist
freilich den Zeitläuften zum Opfer gefallen; von vielen Funden sind nur noch
Beschreibungen oder Zeichnungen erhalten, viele Fundstätten wurden durch
Bauarbeiten und die frühen, recht rabiaten Grabungsmethoden zerstört. Der
verstorbene Autor Christoph Willms, Kustos der Prähistorischen Sammlung des
Archäologischen Museums, folgt in seiner von einem seiner Schüler vollendeten
Dokumentation Frankfurter Kultur- und Museumsgeschichte zwei thematischen
Linien. Zum einen beschreibt er die frühgeschichtlichen Fundstätten und Funde
im Stadtgebiet, zum anderen liefert er eine Grabungs- und Sammlungsgeschichte
bis zum Zweiten Weltkrieg, die auch die Biografien der Ausgräber und ihre
Methoden umfasst. Wer immer sich für diesen Aspekt Frankfurter Stadt- und
Kulturgeschichte interessiert, wird diesen Band mit großem Gewinn lesen.
Dass die Archäologie in Frankfurt keineswegs nur Geschichte, sondern aktuelle
Gegenwart ist, belegen die regelmäßig erscheinenden Berichte des städtischen
Amtes für Denkmalpflege. In kurzen Artikeln werden, nach Stadtteilen geordnet,
die dank intensiver Bautätigkeit zahlreichen größeren und kleineren Funde
dokumentiert, die oft wenig spektakulär erscheinen. Allerdings öffnen gerade
unscheinbare Alltagsgegenstände Gucklöcher in die Vergangenheit und nicht
selten werden bislang feststehende Anschauungen und lokale Überlieferungen in
Frage gestellt. Dabei rückt auch die jüngere und jüngste Vergangenheit in den
Blick der Archäologen, die auch Funde aus dem Mittelalter und Spuren von
Flakstellungen und Luftschutzgräben aus dem Zweiten Weltkrieg unter die Lupe
nehmen. Dabei gab es in dem hier behandelten Zeitraum durchaus Aufsehen
erregende Entdeckungen wie ein mit modernsten Techniken der Rechtsmedizin
geklärter gewaltsamer Tod vor hunderten von Jahren, die Skelette von
napoleonischen Soldaten, die inzwischen ein würdiges Begräbnis erhalten haben,
mittelalterliche Hafenanlagen und ausgedehnte Gräberfunde in Harheim.
Buchstäblich eine Fundgrube für allgemein Geschichtsinteressierte und
Stadtteilhistoriker.
Die keltischen Grabfelder der Hallstatt-Periode in Harheim wurden in einer
Dissertation dokumentiert, diskutiert und analysiert. Die zahlreichen
Grabbeigaben wie Schmuck, Kosmetikgeräte, Keramik, Waffen und sogar einige
Textilspuren geben Auskunft über Kultur- und Handelsbeziehungen dieser
Frühfrankfurter, deren Netzwerke sich über ganz Mitteleuropa bis nach Italien
erstreckten. Dabei geben Analysen des Bodens in den Gräbern anhand seiner
Zusammensetzungen sogar Beigaben preis, die längst vergangen und für das Auge
unsichtbar sind. Die Lektüre dieser Abschnitte lässt einiges von der
Faszination erahnen, die von diesen Entdeckungsreisen in längst vergangene
Zeiten ausgeht; wer immer tiefer in die Details dieser Funde und ihrer
Bearbeitung einsteigen möchte, ist hier genau richtig.
Die drei großformatigen, aufwendig gestalteten Bände sind opulent mit
Abbildungen, Grafiken und Tabellen bestückt, übersichtlich gegliedert und trotz
allem wissenschaftlichen Anspruch in einem verständlichen und flüssig zu
lesendem Deutsch abgefasst – in der deutschen Wissenschaftspublizistik nach wie
vor leider keine Selbstverständlichkeit.
Christoph Willms: Prähistorische Grabfunde aus Frankfurt am Main. Eine
Bestandsaufnahme von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, Schnell &
Steiner 2021, 328 Seiten, 44,95 Euro
Andrea Hampel / Elke Sichert: Archäologie in Frankfurt 2017 – 2019, Schnell
& Steiner 2021, 496 Seiten, 36 Euro
Jan Christoph Breitwieser: Frankfurt am Main-Harheim. Die hallstattlichen
Gräberfelder, Schnell & Steiner 2022, 432 Seiten, 79 Euro
Einer politischen Familie folgen
Dem Namen von Gagern kann man in Frankfurt und
Umgebung quasi auf Schritt und Tritt begegnen. Kaum eine Stadt, in der nicht
eine Straße oder Schule diesen Namen trägt; „das Gagern“ ist eines der
bekanntesten Gymnasien der Mainmetropole. Und im Zusammenhang mit dem Jubiläum
des Paulskirchenparlaments wird er noch des Öfteren zu hören sein. Wer
sich indes näher mit den Namensträgern befassen wollte, musste lange Zeit
enttäuscht Buchladen oder Bibliothek verlassen. Trotz ihrer
politisch-historischen Bedeutung ist kein Buch über die Familie von Gagern,
nicht einmal den Paulskirchenpräsidenten Heinrich von Gagern, auf dem aktuellen
Stand der Geschichtsschreibung erhältlich.
Vater Hans Christoph war als Chef-Minister und Diplomat in Diensten des
Fürstentums Nassau einer der Architekten des Deutschen Bundes und gehörte 1820
dem Landtag von Hessen-Darmstadt an. Frustriert von deutscher Kleinstaaterei
und Repression stritten seine Söhne Heinrich, Friedrich und Max für Freiheits-
und Bürgerrechte und politische Partizipation, die sie freilich nicht in einer
Republik, sondern eher in einer konstitutionellen Monarchie verwirklicht sahen.
Wie im Niederadel üblich, traten auch die Gagern-Söhne in fürstliche Dienste.
Friedrich als Soldat in den Niederlanden, Max als Hochschullehrer und später
als geschickter Diplomat für das Fürstentum Nassau, Heinrich, ebenfalls Jurist,
zunächst in der hessischen Justiz, dann in der Landespolitik. Das Jahr 1848/49 sah
dann beide in der Paulskirche, während Friedrich im Kampf gegen badische
Aufständische ums Leben kam; Heinrich von Gagern amtierte im Revolutionsjahr
als hessischer Ministerpräsident, stand an der Spitze des Parlaments und
schließlich noch der kurzlebigen Revolutionsregierung vor.
Hervorzuheben ist, dass der Autor, als Journalist am langjährigen Wohnsitz der
Gagerns in Kelkheim beheimatet, immer wieder die familiären Verflechtungen, den
Austausch und den gegenseitigen Rückhalt innerhalb der Familie auch über
Meinungsunterschiede hinweg in den Blickpunkt rückt. Die Einbindung in die
bisweilen völlig gegensätzlich orientierten Netzwerke der regierenden Eliten
und zeitgleich in die politische Opposition über Staatsgrenzen hinaus erzwang
immer wieder die Anpassung von Zielrichtung und Vorgehensweisen, ohne die
grundsätzlichen Überzeugungen jemals in Frage zu stellen. Das Buch verbindet
insofern die Familienbiografie mit Demokratie- und Regionalgeschichte, wobei
man dank der konsequenten Nutzung des Familienarchivs und der zahlreichen
Publikationen der äußerst schreibfreudigen Gagern-Familie und ihrem Umfeld
denkbar nahekommt.
Torsten Weigelt: Gagern. Pioniere der deutschen Demokratie, MainBook 2022,
304 Seiten, 25 Euro
Mörderische Geflechte entwirren
Ein langgedienter, erfolgreicher und angesehener Bundestagsabgeordneter, der in
seinem Frankfurter Wohnhaus erschossen wird, wirbelt naturgemäß mächtig Staub
auf. Politik und Medien verlangen schnelle Aufklärung, und so steht das frisch
zusammengestellte Kriminalistenduo mächtig unter Druck.
Spuren ins Privatleben, in parteipolitische Rangeleien an Main und Spree, in
die ebenso lukrativen wie undurchsichtigen Nebentätigkeiten und schließlich in
die Geflechte nahöstlicher Geheimdienste verlaufen im Sande. Durchstechereien
in die Medien, Zeugen, die mehr zur Verwirrung als zur Erhellung beitragen,
nicht zuletzt politische Vorurteile der Ermittler selbst blockieren die
Polizeiarbeit. Fast sieht es so aus, als sei hier der perfekte Mord gelungen,
als ein weiterer Todesfall wieder Bewegung in den Fall bringt und der
Gerechtigkeit Genüge getan wird – oder doch nicht?
Der Autor, selbst lange als Frankfurter Bundestagsabgeordneter in Berlin und
nun wieder als politikwissenschaftlicher Hochschullehrer tätig, hat hier nach
zahlreichen Fachpublikationen einen Ausflug ins Krimi-Fach unternommen.
Herausgekommen ist freilich mehr als ein spannender Roman, nämlich wiederum ein
Buch über die Hinter- und Abgründe des politischen Betriebes, seiner
Machenschaften und deren Akteure. Zwar ist der Band kein Schlüsselroman, aber
einigermaßen informierte Leser werden doch mit einigem Schmunzeln die
zahlreichen Parallelen zwischen fiktiven Personen und Orten und Frankfurter
Realitäten, dazu das Spiel mit Klischees über Politik und ihre Akteure
genießen.
Matthias Zimmer: Der tote Bundestagsabgeordnete, Henrich Editionen 2022, 289
Seiten, 16 Euro
Texte: Thomas Scheben
Lesen Sie hier Teil 2Internal Link des Bücherzettels.