Buchempfehlungen Sommer 2022 – Teil 2
Nicht nur die Historie der Stadt, ihre Wirtschaftsgeschichte und immer wieder die verhängnisvolle Zeit der NS-Diktatur bieten nach wie vor reichlich Anlass zu Ausstellungen und literarischer Bearbeitung. Auch das heutige Frankfurt mit seiner vielschichtigen, komplexen Stadtgesellschaft bildet einen offenbar unerschöpflichen Fundus für wissenschaftliche Forschungen und natürlich Krimis – wobei sich angesichts mancher Auswüchse ironische oder parodistische Züge geradezu von selbst einstellen, oder ganz aktuelle Entwicklungen die Bühne für temporeiche Action bereiten.
Kinder mussten sehen, was Kinder nicht sehen sollten
Einige Jahre recht normaler Kindheit waren dem Jungen vergönnt, der 1930 in die noch recht heile Welt der Kuhwald-Siedlung hineingeboren wurde. Die kleinen und großen Freuden, Sorgen und Desaster des Heranwachsens in einem kleinbürgerlichen Ambiente bestimmten den alles andere als „grauen“ Alltag einer Frankfurter Stadtrandsiedlung, in der es bereits damals überraschend „bunt“ zuging. Mit feinen Strichen und bisweilen leiser Ironie zeichnet der Autor die Personen und Persönlichkeiten aus Familie und Wohnumfeld, die geradezu plastisch aus den Seiten hervortreten.
Erst langsam und unmerklich, dann immer tiefer dringt die NS-Diktatur in das Leben und Erleben ein, in der Schule beginnt die Indoktrination und das aufgenötigte, von den Eltern aber nach Kräften eingeschränkte Mitmachen in den braunen Jugendorganisationen. Schließlich verschwindet ein geistig behindertes Kind und wird – offensichtlich – im Heim getötet, und mit der „Reichskristallnacht“ und der Judenverfolgung rückt die Brutalität des Regimes auch einem Achtjährigen ins Blickfeld. Der bald folgende Kriegsausbruch bleibt zunächst noch abstrakt – bis zum Soldatentod älterer Nachbarsjungen und dem verstörenden Leid ihrer Familien.
Heckmann schreibt aus dem Blinkwinkel eines Kindes auf eine Welt, die sich rapide wandelte. Subjektiv, weil sich mit dem Heranwachsen die Perspektive änderte, und objektiv, weil diese Welt buchstäblich begann, auseinander zu brechen, als die Luftangriffe zunahmen, und schließlich das vertraute Frankfurt in Trümmern lag: Der Gymnasiast selbst überlebte nur knapp einen Bombeneinschlag in seiner Schule. Herbert Heckmann, später ein vielseitiger Autor, langjähriger HR-Mitarbeiter und Hochschullehrer, hat sein Buch, das hier als Neuauflage mit einer Biographie und einem erläuternden Nachwort vorliegt, als Erinnerungsroman bezeichnet, in dem die meisten Ereignisse, aber nicht alle Akteure real waren, es aber hätten gewesen sein können. Wer sich für ein authentisches, aber dennoch aus der Distanz vieler Jahrzehnte erzähltes, ebenso dichtes wie kurzweilig zu lesendes Zeitporträt aus dem Frankfurt der 30er Jahre interessiert, oder wer einfach nur ein ebenso ungewöhnliches wie anspruchsvolles Buch lesen möchte, sollte hier zugreifen.
Herbert Heckmann: Die
Trauer meines Großvaters, Schöffling & Co. 2022, 346 Seiten, 24 Euro
Manchmal übertreffen Punks die Polizei
Irgendwann des Punkerdaseins müde, aber auch ohne bürgerliche Berufsperspektive, eröffnet Sandy mit Unterstützung einer weiteren Ex-Punkerin, die sich inzwischen zu einer veritablen Anwältin gemausert hat, eine Detektei. Seit Sherlock Holmes und Inspector Lestrade unvermeidlich: Der Polizeibeamte, der mal als Konkurrent, mal als Partner an den Ermittlungen beteiligt ist, und hier obendrein noch verdammt gut aussieht. Komplettiert wird das Trio, dem die Autorin inzwischen noch weitere literarische Leichen vor die Füße geworfen hat, durch einen weiteren ziemlich chaotischen Szene-Kumpel, der oft ebensoviel Heil wie Unheil stiftet. Im Wechsel zwischen Kooperation und Konflikten lösen sie Fälle, in denen die Polizei ohne die Erfahrungen von Straßenleben, Hausbesetzungen und Milieukontakten allein nicht weiterkäme.
Und das schon gar nicht bei undurchsichtigen Fallkonstellationen, wie sie sich wohl nur in einer Stadt wie Frankfurt mit internationaler Vernetzung und Verstrickung zahlloser internationaler legaler wie illegaler Akteure und einem toxischen Gemisch aus Macht, Drogen und vor allem Geld zusammenbrauen können. Im ersten Fall erhält ein Professor für Turkologie Todesdrohungen, die sich schon nach ein paar Tagen als höchst real erweisen – und jetzt soll Sandy im Auftrag der Witwe weiter ermitteln, wobei sie alsbald von rätselhaften Vorfällen behindert wird. Aber wer weiß von ihren Ermittlungen, was steckt dahinter? Eskalierter Konkurrenzneid unter Kollegen, eine Institutsintrige, eine Eifersuchtsgeschichte? Erst als Sandy selbst dem Täter in die Fänge gerät, werden die Zusammenhänge klar.
Auch der zweite Fall beginnt blutig; dieses Mal sitzt ein Anwalt tot an seinem Schreibtisch. Eine Spur führt ins Zuhältermilieu, eine andere in ein Waisenhaus nach Südafrika. Im Umfeld geschieht ein zweiter Mord und es tauchen immer mehr Leute auf, die vor irgendetwas Schutz suchen. Als es ziemlich zeitgleich sowohl den Ermittlern als dem Täter selbst dämmert, wie nahe die Lösung gerückt ist, endet der Fall in einem rasanten Finale.
Erzählt werden die Fälle aus der Ich-Perspektive von Sandy,
deren Vorgehen und Überlegungen, ebenso die gelegentlichen Ausflüge und
Rückfälle ins Punkerdasein die Autorin vergnüglich und ironisch in Szene zu
setzen weiß. Dass sie im Gegensatz zu ihrer Hauptfigur bei ihren Recherchen
bisweilen selbst mal nicht allzu gründlich vorgegangen ist, dürfte wohl nur
Insidern auffallen – wie dem Autor dieser Rezension, der selbst Turkologie
studiert hat. Ansonsten machen neben den rasanten Fällen das verschlungene
Privatleben der Protagonisten sowie die treffsicheren Skizzen der reichhaltigen
Frankfurter Stadtgesellschaft mit ihren unzähligen Facetten Appetit auf die
weiteren Fälle dieser Truppe.
Katja Kleiber: Der
Prof mit dem Sarg. Ein Frankfurt-Krimi. Sandys 1. Fall, Neopubli 2021, 256
Seiten, 9,95 Euro
Katja Kleiber: Der Anwalt ohne Hose. Sandy ermittelt in Frankfurt, Neopubli 2021, 338 Seiten, 12 Euro
Friederike hält das Geschäft am Laufen und die Familie zusammen
Acht Jahre nach dem Tod ihres Mannes betreibt Friederike Ronnefeldt erfolgreich das Geschäft mit exotischen Stoffen, chinesischem Porzellan und eben Tee. Gegen den hinhaltenden Widerstand des langsam alternden Prokuristen geht sie daran, den Handel allein auf das exotische Gebräu zu konzentrieren, der mehr abwirft und weniger Modeschwankungen unterworfen ist als das übrige Warensortiment.
Unterdessen wächst die zweite Generation heran. Während die Mutter sich um das Geschäft kümmert, dessen Bestand einmal mehr gefährdet ist, als ein Mainhochwasser große Teile der Lagerbestände vernichtet, suchen ihre Söhne und Töchter ihren Platz in einer sich rapide wandelnden Welt. Der Älteste, Carl, designierter Nachfolger in der Unternehmensleitung, geht zur Ausbildung in eines der großen Hamburger Überseekontore, einer denkt an eine Karriere als Kunstmaler, während die Töchter mit der Mutter hadern, die ihnen eben die berufliche Eigenständigkeit, die sie selbst gewonnen hat, nicht zubilligen möchte.
Das gelingt ihr nur teilweise. Zwar war die Deutsche Revolution niedergeschlagen, aber keineswegs ungeschehen gemacht. Im Frankfurt der Jahre 1853 und 1854, auf die sich die Handlung konzentriert, leben zahlreiche Menschen, die sich deren Idealen nach wie vor verpflichtet fühlen. So sympathisieren einige der Ronnefeldt-Nachkommen offen mit den Ideen Leopold Sonnemanns zur Einrichtung von Schulen und Bildungseinrichtungen für Arbeiter und Handwerksgesellen, und noch immer sucht die Polizei nach seinerzeitigen Revolutionären, die unter falschem Namen in Frankfurt untergetaucht sind. Wie schon im ersten Band ihrer Ronnefeldt-Saga hat die Autorin sich einige Freiheiten mit Unternehmensgeschichte und Biographien genommen, für die ihr die Archive der Teedynastie offen standen. Deren Geschichte und Schicksale stellt sie wiederum äußerst kenntnisreich in den Kontext der politischen und sozialen Verhältnisse ebenso wie in die Kultur und die Lebenswelten der von Standesdünkel separierten Gesellschaftsschichten sowohl der Freien Stadt Frankfurt als auch der internationalen Handelsmetropole Hamburg. Das weitet die Handlung auf weitere Schauplätze bis in die Vereinigten Staaten aus und sorgt für noch mehr Tempo und Spannung als im ebenso empfehlenswerten ersten Band dieser Zeitreise ins Frankfurt des 19. Jahrhunderts.
Susanne Popp: Der Weg der Teehändlerin. Die Ronnefeldt-Saga Band 2, 512 Seiten, Fischer Taschenbuch 2022, 10,99 Euro
Die meisten haben mitgemacht
Noch bis zum 11. September ist im Historischen Museum die Ausstellung „Frankfurt und der NS“ zu sehen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, „Geschichte und Ideologie des NS zu verstehen, um den Versprechen von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen zu verstehen.“ Das Konzept versucht, eine Gesamtschau auf die Verantwortung der Frankfurter Stadtverwaltung, Institutionen wie Wirtschaftsunternehmen und Gerichten und letztlich der Stadtgesellschaft zu eröffnen.
Wie die Ausstellung stellt sich auch der Katalog der Frage, wie eine durch und durch bürgerlich-liberale Stadt, den Nazis als „Stadt der Juden und Demokraten“ verhasst, sich mehrheitlich und ohne größeren Widerstand den braunen Machthabern anschließen und selbst die übelsten Untaten, vor allem gegen die jüdischen Nachbarn, Kollegen und Geschäftspartner umsetzen konnte. Eine der Antworten liegt in den Angeboten, mit denen die NS-Organisationen der von Wirtschaftskrise und sozialen Unruhen gebeutelten Bevölkerungsmehrheit auf ihre Seite zogen. Folglich richtet sich der Blick auch über das katastrophale Ende des Krieges hinaus auf den Umgang und die Aufarbeitung dieser Vergangenheit, der Ausstellung und Katalog ein weiteres, gewiss nicht abschließendes Kapitel hinzufügen wollen.
Das großformatige, opulent bebilderte Buch will bewusst keiner der häufigen Begleitbände mit Forschungsberichten und Aufsätzen, sondern ein Katalog sein, der sich auf die Darstellung der Exponate konzentriert. Dennoch kann man auch den Katalogteil nicht in allen, aber sehr vielen Kapiteln durchaus auch als durchlaufenden Text, in jedem Falle als Vertiefung der rund 50-seitigen Einführung in die Stadtgeschichte der NS-Zeit lesen. Zwar ersetzt der Band nicht den Besuch der Ausstellung, kann diesen aber ergänzen, und auch wer es nicht ins Museum schafft, kann seine immense Themenvielfalt mit Gewinn nutzen.
Benedikt Burkard, Anne Gemeinhardt u.a.: Frankfurt und der NS: Eine Stadt macht mit, Michael Imhof Verlag 2021, 320 Seiten, 39,95 Euro
Wer wohnen will, hat’s schwer in Frankfurt
Dass Frankfurt ein Wohnungsproblem hat, ist eine täglich zu besichtigende Binsenweisheit. Der Wohnungsbau hält mit der rasant steigenden Nachfrage nicht Schritt, und die Preise für Kauf und Miete sind den Einkommen vieler Haushalte längst enteilt. Mit den Ursachen und Folgen dieser Entwicklung sowie den daraus resultierenden Konfliktfeldern befassen sich die insgesamt 36 Beiträge dieses Sammelbandes aus den Perspektiven von Wissenschaft, sozialen Bewegungen und Initiativen.
Dabei sind Frontstellung und Blickrichtung von Anfang klar. Globalisierung, eine nicht näher definierte „neoliberale“ Stadt- und Wirtschaftspolitik sowie deren „autoritäre“ Tendenzen werden von vornherein als Hauptschuldige an der Misere ausgemacht. Die Autoren sehen sich durchgängig an der Seite der unteren Einkommens- und diverser gesellschaftlicher Randgruppen. Konkrete Lösungsansätze werden nicht entwickelt. Den meisten Verfassern scheinen etwas nebulös einfach der Bau von mehr subventioniertem Wohnraum, genossenschaftliche Eigentumsformen oder gleich die Vergemeinschaftung vorzuschweben, wobei die städtische Wohnbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding allerdings ausdrücklich auf der Seite der marktwirtschaftlichen Übeltäter verortet wird. Auch werden hinsichtlich der Flächennutzung Zielkonflikte mit dem Erhalt urbaner Lebensqualität wie Grünflächen, Durchlüftung oder umweltpolitischen Desiderata wie der „Schwammstadt“ wenn überhaupt, dann nur am Rande thematisiert.
Der Hang mancher Beiträge zu schwer verständlichem Fachjargon, der anklagende, von Sozialfuror getriebene polemische Tonfall und nicht zuletzt das reichliche Verstreuen von Gendersternchen machen den Aufsatzband nicht eben zu einer gefälligen Lektüre. Das ist umso bedauerlicher, als einige Beiträge durchaus interessantes Zahlenmaterial zur Wohnungsbaupolitik sowie Analysen gesellschafts- und stadtpolitischer Prozesse und Einblicke in Sozialmilieus bieten, die Normalbürgern vielfach verschlossen bleiben. Insgesamt eine verschenkte Gelegenheit, dieses drängende Problem statt mit Schwarz-Weiß-Malerei ausgewogen zu durchleuchten.
Johanna Betz, Svenja
Keitzel u.a. (Hg.): Frankfurt am Main. Eine Stadt für alle? Konfliktfelder,
Orte und soziale Kämpfe, transcript Verlag 2021, 447 Seiten, 25 Euro
Nicht nur Kugeln machen Löcher
Ein Privatdetektiv bekommt den Auftrag, einen verschwundenen Schwiegersohn ausfindig zu machen. Der taucht zwar wieder auf, aber fein säuberlich zerlegt in Plastiksäcken. Auch soll der Detektiv einem vermeintlich untreuen Ehemann auf die Schliche zu kommen. Gefunden wird der allerdings nicht in einem fremden Bett, sondern in einer Scheune mit ausgesprochen bleihaltiger Luft.
Und mit Blei wird in diesem streckenweise rasanten, actionreichen Krimi nicht gespart. Nach und nach wird auch klar, dass sich Einsatz und Risiko durchaus lohnen. Denn die Auftraggeber der Scharfschützen haben allen Grund, wirklich jeden, Polizei inklusive, aus dem Weg zu räumen, der ihnen zu nahe kommt. Dem einen geht es um viel Geld und Macht, dem anderen um wissenschaftlichen Ruhm – und um zu wissen, wie beide Fälle miteinander verknüpft sind, muss man bis zum ziemlich überraschenden Finale dabeibleiben. Wobei an diesem Ende die Gerechtigkeit nur einen Teilerfolg erringt, und einiges dafür spricht, dass es irgendwann eine Fortsetzung geben wird; der Autor, wie sein Ermittler ein Frankfurter Bub, lässt es nicht zum ersten Mal am Main krachen.
Zwar spielt der Fall im Jahre 2015, aber der Autor verwebt sehr aktuelle Themen wie die Corona-Pandemie und die Hirnforschung nebst zynisch-korrupter Politiker in die durchweg temporeiche und spannende Handlung, die jedem Actionfilm Ehre machen würde. Diese verfolgt der Leser aus der Ich-Perspektive des Detektivs und einem seiner Gegenspieler, die übrigen Szenen aus der Vogelperspektive, bis am Ende die Welt einmal mehr gerettet ist. Wenigstens vorläufig.
Alexander Schaub: Ismaels Erwachen, mainbook 2022, 275 Seiten, 13 Euro
Text- Thomas Scheben
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