Buchempfehlungen Sommer 2022 – Teil 1
Nicht nur die Stadtgeschichte, namentlich die verhängnisvolle Zeit der NS-Diktatur, bieten nach wie vor reichlich Anlass zu Forschung und literarischer Bearbeitung. Auch das heutige Frankfurt mit seiner vielschichtigen, komplexen Stadtgesellschaft bildet einen offenbar unerschöpflichen Fundus für Reportage, Gesellschaftsroman und dessen unterhaltsamen Cousin, den Krimi – wobei sich angesichts mancher Auswüchse ironische oder parodistische Züge geradezu von selbst einstellen.
Eine kleine Welt gerät aus den Fugen
Ein radikaler Neuanfang mit Anfang 60, beruflich und familiär, Umzug vom Dorf
in die Metropole Frankfurt inklusive. Nora Budweis wechselt nach Jahren aus der
selbstständigen, materiell ewig unsicheren und etwas einsamen Existenz einer
Übersetzerin als Lehrerin an eine private Grundschule nach Sachsenhausen.
Eigenwillig und unter souveräner Missachtung eingefahrener Routine gestaltet
die Quereinsteigerin den Unterricht in ihrer zweiten Klasse. Damit gewinnt sie
schnell die Zuneigung der Kinder, unter denen ihr ein Junge Namens Jona alsbald
besonders nahekommt, womit sie sich umgehend die Eifersucht seiner überforderten
und nur mäßig am eigenen Kind interessierten Mutter einhandelt. Damit setzt
Nora, einem Katalysator gleich, Reaktionen und Gegenreaktionen in Gang, die
scheinbar fest geknüpfte Netzwerke im gehobenen, fast idyllischen,
Sachsenhäuser Milieu in zunehmend heftige Schwingungen versetzen, und die man
aus der jeweiligen Perspektive der Charaktere mitverfolgt.
In ihrer nüchternen, sachlichen Sprache führt die Autorin ihren Leser nahe an
ihre Figuren heran, ohne dass dieser die Distanz der Beobachterposition
verliert oder sich gar mit einer davon identifiziert – auch wenn man sicher
ähnlichen Großstadtgestalten gerade in Frankfurt schon einmal begegnet ist, aus
deren Reden und Handeln sich im Laufe der Lektüre eine schichten- und
generationenspezifische Stadtmentalität herauskristallisiert. Es dauert eine
Weile, bis man den Spannungsbogen wahrnimmt, der sich unter der Oberfläche
eines scheinbar ruhig dahinfließenden Alltagsgeschehens aufbaut. Das erste
Anzeichen dafür ist ein gewisser Unwille, das Buch aus der Hand zu legen, bis
sich die kleinen und großen Dramen des urbanen Daseins zu einem Handlungsstrang
verflechten, an dessen Ende für alle Beteiligten nichts mehr so ist, wie es
war.
Andrea Hensgen: Die neuen Bekanntschaften der Nora Budweis, Lindemanns 2021,
284 Seiten, 16 Euro
Emma Bonn war fast vergessen
In der Siesmayerstraße auf dem Weg in den Palmengarten kaum zu übersehen: Die
Villa Bonn, Sitz der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und
Wirtschaft. Weitgehend vergessen sind indes die Namensgeber des stattlichen
Bauwerkes, die zur Frankfurter Wirtschaftselite der Kaiserzeit gehörende
jüdische Familie Bonn, verwandtschaftlich eng verbunden mit den Familien der
Cassella- Gründer Gans und Weinberg.
Emma Bonn wurde indes nicht in Frankfurt, sondern in den USA geboren, wo ihr
Vater im Eisenbahnbau ein Vermögen verdient, aber nie das Heimweh nach
Frankfurt überwunden hatte und 1885 mit seiner Familie zurückkehrte. Trotz
ihrer Einbindung in die großbürgerliche, weltgewandte Geselligkeit der Mainmetropole
und eines beträchtlichen materiellen Wohlstandes, der ihr eine lebenslange
finanzielle Unabhängigkeit sicherte, war sie keine glückliche Frau. Als Kind
litt sie unter einer autoritären Großmutter und einer sadistischen Gouvernante,
eine erhoffte künstlerische berufliche Karriere war in diesen Kreisen für eine
Frau ein Unding. Dazu war sie von Kind an kränklich und über lange Phasen ihres
letzten Lebensjahrzehnts bettlägerig. Um 1910 veröffentlichte sie erste
Novellen, es folgten etliche Romane und später auch Gedichte. Obwohl sie an
ihrem späteren Wohnsitz am Starnberger See – das Frankfurter Domizil hatten sie
und ihr Bruder 1923 verkauft – Anschluss an Literatenzirkel um Thomas Mann
fand, war ihr nie ein wirklicher schriftstellerischer Erfolg beschieden. Von
den Nazis drangsaliert und um Haus und Vermögen gebracht, wurde sie ungeachtet
ihres schlechten Gesundheitszustands 1942 in das Ghetto Theresienstadt
deportiert, wo sie kurz darauf verstarb.
Die Autorin, Großnichte von Emma Bonn und Angehörige einer der ältesten, seit
dem Mittelalter nachweisbaren jüdischen Familien in Deutschland, hat bereits
eine Geschichte ihrer Familie verfasst. Im Zuge ihrer Recherchen dazu wurde ihr
ein Manuskript mit hundert unveröffentlichten Gedichten von Emma Bonn
zugesandt, von denen einige im Buch abgedruckt sind. Aus der Familiengeschichte
der Bonns, den anschaulichen Schilderungen des familiären und
gesellschaftlichen Umfelds und den Passagen aus einem autobiographisch
eingefärbten Roman von Emma Bonn sowie einem Bildteil, Familienstammbäumen und
Kurzbiographien rekonstruiert die Autorin das berührende, bisweilen bedrückende
Leben einer fast vergessenen Frankfurter Schriftstellerin, ihre Umgebung und
ihr tragisches Ende.
Angela von Gans: Emma Bonn 1879 – 1942. Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin, Stroux edition 2021, 148 Seiten, 20 Euro
Ein Flughafen ist mehr als Start und Landung
Fast klingt es wie ein nostalgischer Bericht aus einer früheren, besseren Zeit:
Der Frankfurter Flughafen, bevor die Pandemie ihn erst fast lahmlegte und dann
den Neustart zu einem nahezu unbeherrschbaren Chaos geraten ließ. Wobei man bei
der Lektüre dieses Buches mit jeder Seite besser nachvollziehen kann, wie
störanfällig dieser komplexe Mechanismus ist, wenn eines der zahllosen Räder
und Rädchen nicht mehr rund läuft.
Die Autorin beginnt mit einem knappen Überblick über die Historie von
Luftfahrttechnik und Passagierverkehr. Frankfurts Luftfahrtgeschichte beginnt
1912 mit einem Luftschiffhafen am Rebstock, wo das Gras auf den Startbahnen von
Schafen kurzgehalten wurde, bis dann 1936 der Betrieb auf dem heutigen Gelände
aufgenommen wurde und sich die 234 Starts und Landungen bereits im
Folgejahr verzehnfachten. Seinen ersten großen Auftritt auf der Weltbühne
hatte der Flughafen nach dem Zweiten Weltkrieg, als alle drei Minuten eine
US-Maschine nach Berlin startete und so das Überleben der von den Sowjets
blockierten Stadt sicherte.
Von den zahlreichen Funktionselementen wird der Leser manche wie die Flugleitung,
die Erhaltung der Landebahnen, die Beleuchtung, überhaupt Energie, Wasser,
Entsorgung als selbstverständlich zu kennen glauben. Umso überraschter wird er
zur Kenntnis nehmen, wie herausfordernd sich diese scheinbaren
Selbstverständlichkeiten in der täglichen Umsetzung darstellen. Anderes wie der
Transport lebender Tiere, der Umschlag verderblicher Pflanzen und Lebensmittel
oder der Flughafen als ganz eigenes Biotop erwünschter und ebenso eher
unwillkommener Flora und Fauna rücken wohl erst in zweiter Linie ins Blickfeld.
Nicht verschwiegen werden auch die düsteren Kapitel seiner Geschichte, die
KZ-Außenstelle in Walldorf, die in der Ermordung zweier Polizisten gipfelnden
Krawalle gegen den Bau der Startbahn West sowie etliche durchgeführte und knapp
vereitelte Terroranschläge unterschiedlicher Gruppen und Einzeltäter. Alle
diese und viele weitere Stichpunkte werden in anschaulichen und kurzweiligen,
reichhaltig illustrierten und informativen Kapiteln geschildert, wodurch sich
der informative Band ebenso zum Durch- wie zum Querlesen anbietet.
Ulrike Corneliussen: Ready for Take-Off. Erlebnisreise durch den Frankfurter
Flughafen, Societäts-Verlag 2022, 198 Seiten, 15 Euro
Wie man der Hölle entkommt
Als eine ausgebrannte Hölle ist das immer wieder bombardierte Frankfurt seinen
Einwohnern nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung geblieben. Verborgen blieb
den meisten ein zweiter Kreis der Hölle, der sich in der Stadt etabliert hatte:
Das „KZ Katzbach“ auf dem Firmengelände der Adlerwerke, in dem polnische Zwangsarbeiter
die Rüstungsindustrie ihrer deutschen Feinde in Gang halten mussten.
Hierhin verschlug es den damals 21-jährigen Polen Janusz Garlicki nach dem
Warschauer Aufstand im August 1944. Willkürlich verhaftet kam er nach
Durchgangsstationen in Polen und im KZ Buchenwald in die Adlerwerke, wo er wohl
nicht zuletzt wegen seiner deutschen Sprachkenntnisse in der Lagerküche
eingesetzt wurde. Nüchtern und sachlich, aber gerade deshalb umso
eindrucksvoller schildert er den von schwerster Sklavenarbeit bei
Hungerrationen, mangelnder medizinischer Versorgung und der Brutalität der
SS-Wachmannschaft sowie von Erniedrigung und Verzweiflung, aber auch von
Gemeinschaft und Überlebenswillen geprägten Lageralltag. Während der Leser
seinen Überlebenskampf verfolgt, tauchen immer neue Namen und Schicksale von
Leidensgenossen auf. Manche gewinnen Gesichter und Konturen, anderen tauchen
nur kurz schattenhaft auf, bevor sie den unmenschlichen Lebensbedingungen
erliegen. Als sich im Frühjahr 1945 US-Truppen der Stadt nähern, werden die
entkräfteten Gestalten auf einem Todesmarsch evakuiert, aus dem sich Garlicki
mit einem der wenigen verbliebenen Freunde in Bayern durch eine abenteuerliche
Flucht retten kann.
Nach seiner aktiven Berufslaufbahn engagierte sich der Autor in der
deutsch-polnischen Jugendarbeit und berichtete jungen Menschen von seiner Zeit
im Arbeitslager; seine Erinnerungen publizierte er 2010 erstmals als Buch. Es
wurde von Andrea Rudorff übersetzt, von der im vergangenen Jahr das für lange
Zeit endgültige Standardwerk über das „KZ Katzbach“ erschienen ist. Rudorff hat
den vorliegenden Band mit einer Einführung zur Person des polnischen Autors und
knappen Erläuterungen zu im Text erwähnten Personen, Orten und Begriffe
versehen. Garlicki, dessen Schilderung man den gelernten Journalisten anmerkt,
nimmt mit einer haarfein austarierten Mischung aus persönlicher Perspektive und
dokumentarischer Distanz seine Leser in sein Schicksal hinein, aus dem es bis
zur letzten Seite kein Entkommen gibt.
Janusz Garlicki: Von der Wahrscheinlichkeit zu überleben. Aus dem Warschauer Aufstand ins KZ-Außenlager bei den Frankfurter Adlerwerken, Harrassowitz Verlag 2021, 292 Seiten, 22,90 Euro
Und ewig wacht der Hahn
Kein Frankfurter, der ihn nicht kennt: Den vergoldeten Hahn, der von hoher
Warte über die Alte Brücke wacht, auf Frankfodderisch der „Brickegickel“,
Hauptdarsteller einer der bekanntesten Stadtlegenden. Und so vergeht in diesem
Buch kaum eine Seite, auf der nicht ein solches Federvieh durch die Zeilen
flattert.
Besonders zu schaffen machen diese Gockel in allerlei Gestalt Hauptkommissar
Hollbein und seiner Kollegin, die zu einer Leiche an besagte Brücke gerufen
werden. Schnell stellt sich heraus, dass die Dame kein natürliches Ende
gefunden hat, und nur wenig später führen Spuren zu einem prominenten
Fleischfabrikanten, der mit einem revolutionär neuen Produkt den chinesischen
Markt aufrollen will. Steckt etwa die chinesische Mafia dahinter, haben sich da
Unternehmensintrigen oder familiäre Verwicklungen zu einer Katastrophe
verknotet? Die Kommissare haben ein paar harte Eier zu schälen….
Das flott und mit augenzwinkerndem Humor geschriebene, einem gelegentlichen
Kalauer keineswegs abholde Büchlein für Krimi- und Frankfurtfreunde passt in
jede größere Tasche und empfiehlt sich somit zur Mitnahme in Züge oder
Flugzeuge, auf dass die offenbar unvermeidliche Verspätung dank diesem
vergnüglichen Lesegenuss die Laune nicht allzu sehr trübt.
Erich Niederdorfer: Brickegickel, edition federleicht 2022, 126 Seiten, 14 Euro
Text: Thomas Scheben
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