Nie wieder Gepäckabteil
09.05.2024
Podiumsdiskussion „Selbstvertretung damals und heute“ würdigt 50. Jahrestag des VHS-Kurses „Bewältigung der Umwelt“
„Eine
Fahrkarte nach Hanau, bitte“ – so fing sie an, die Bahnfahrt von Autorin
Christa Schlett. Doch statt auf den Main blickte die Rollstuhlfahrerin auf
Koffer. Weil sie ins Gepäckabteil musste.
50 Jahre ist diese denkwürdige Bahnfahrt her. 50 Jahre, in denen sich viel
getan hat im Kampf um Würde und Selbstbestimmung behinderter Menschen. Weil die
sich das Kleinmachen und in die Ecke drängen lassen nicht mehr gefallen ließen.
Auch Schlett nicht, die sich im damals neuen VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“
engagierte – und am Dienstag, 7. Mai, im Historischen Museum gemeinsam mit
anderen auf den 50. Jahrestag dieses ganz besonderen Kurses zurückblickte.
Im Januar 1974 ging das von Sozialarbeiter Gusti Steiner, der selbst im
Rollstuhl saß, und dem Journalisten Ernst Klee konzipierte Angebot „Bewältigung
der Umwelt“ an den Start. Im Kampf um Selbstbestimmung setzten sie auf
öffentlichkeitswirksame Proteste wie Straßenbahnblockaden. Vielen
Frankfurterinnen und Frankfurtern wurde dadurch erstmals bewusst, mit welchen
Barrieren behinderte Menschen im Alltag zu kämpfen hatten.
Was hat sich seitdem verändert? Wo wirkt die Kraft und Energie, die aus dieser
Bewegung entstand, bis heute nach? Und vor allem: Was bleibt noch zu tun? Über
Themenmangel konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der
Podiumsdiskussion „Selbstvertretung damals und heute“ wahrlich nicht beklagen.
Neben Schlett waren dabei: Sozialarbeiter Georg Gabler, Hannes Heiler, FBAG
Frankfurter Behindertenarbeitsgemeinschaft/Verein Selbst, Ulrike Holler,
Journalistin beim Hessischen Rundfunk, Ottmar Miles-Paul von der
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Kobinet-Nachrichten, Journalistin
Annedore Smith und Björn Schneider vom Selbstvertreterrat Lebenshilfe.
Moderiert wurde die Runde von Katja Lüke.
„Kreative Aktionen des zivilen Ungehorsams“ hätten die Anfangsphase des Kurses
geprägt, so Journalistin Smith. Ein Ziel: die Zentrale der Post auf der Zeil.
Die sträubte sich lange gegen eine Rollstuhlrampe. Smith sagte: „Die erste
Antwort war: Haben Behinderte denn postalische Bedürfnisse?“
Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg erinnerte in ihrem Grußwort an den
Slogan „Sprecht mit uns, nicht über uns“, den die Pionierinnen und Pioniere
der Behindertenrechtsbewegung geprägt haben: „Sie haben damals das Wort
ergriffen. Sie haben die Diskussion an sich gezogen und aktiv deutlich gemacht,
wo Ausgrenzung stattfand und woran Teilhabe scheiterte.“ Die Proteste
markierten eine Zäsur, ohne die der Fortschritt beim Thema Barrierefreiheit
nicht möglich gewesen wäre. Auch in Zukunft gelte: „Ihre Selbstvertretung ist
und bleibt wichtig.“
VHS-Direktor Danijel Dejanovic sagte: „Gusti Steiner und Ernst Klee haben sich
damals bewusst dafür entschieden, mit ihrem Kurs an die Volkshochschule zu
gehen. Es steht mir nicht zu, zu beurteilen, ob die Selbstvertretung
behinderter Menschen von der VHS profitiert hat. Was ich jedoch sagen kann: Wir
als VHS haben von diesem Kurs profitiert. Er hat uns sensibilisiert für
Inklusion. Inklusion ist Teil unserer Identität geworden. Sie hat uns besser
gemacht. Sie hat unserem Anspruch, Bildungsinstitution für alle zu sein,
mit Leben gefüllt.“
Der Direktor des Historischen Museums, Jan Gerchow, spannte einen Bogen von den
frühen Kämpferinnen und Kämpfern für Selbstbestimmung zur Studentenbewegung
1968 – und zur Geschichte des Hauses. So wie die Sichtbeton-Architektur des
Neubaus 1972 für das Abschneiden alter Zöpfe gestanden hätte, sei das Thema
Inklusion in die Umgestaltung der 2010er Jahre eingeflossen.
In einem waren sich alle einig: Zum inklusiven Frankfurt ist es noch ein weiter
Weg. So kritisierte Heiler den langsamen Umbau von Haltestellen: „In dieser
Geschwindigkeit dauert es noch 20 Jahre.“
Bildungsdezernentin Sylvia Weber: „Behindertengerecht ist menschengerecht
– dieser Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bringt es
auf den Punkt. Inklusion ist keine mildtätige Geste, sie ist ein Recht. Genauer
gesagt: ein Menschenrecht. Inklusion als Recht zu benennen und es einzufordern
war anno 1974 noch eine Provokation. Die Teilnehmenden des VHS-Kurses
‚Bewältigung der Umwelt‘ haben es dennoch getan. Dazu gehörte jede Menge Mut,
aber auch der Glaube, dass es sich lohnt für dieses Recht zu kämpfen.“
Weitere Informationen und Hintergründe zum VHS-Kurs „Bewältigung der Umwelt“
finden sich auf der Webseite der VHS unter vhs.frankfurt.de/selbstvertretungInternal Link.