Nachveröffentlichung eines Portraits anlässlich des 100. Geburtstags von Trude Simonsohn am 25. März 2021
‚Es gibt Menschen, die Briefmarken sammeln. Ich sammele Freunde!‘
Als die Wehrmacht im März 1939 die Stadt Olmütz im Osten
des heutigen Tschechiens besetzt, begann das Leiden. Die
Nationalsozialisten errichten das „Protektorat Böhmen und Mähren“,
nachdem im Jahr zuvor Großbritannien, Frankreich und Italien im
Münchner Abkommen faktisch die Zerschlagung der Tschechoslowakei
ermöglicht hatten. Die 1921 geborene junge Frau und spätere
Frankfurter Ehrenbürgerin Trude Simonsohn darf weder Abitur machen noch
das angestrebte Medizinstudium beginnen. Den Vater verschleppen die
Nazis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und ermorden ihn in einem
ihrer Konzentrationslager. Sie wird später die Hölle von Auschwitz
nur knapp überleben. Trude Simonsohn begeht am Donnerstag, 25. März,
ihren 100. Geburtstag.
Trude Simonsohn engagiert sich in Olmütz in der
zionistischen Jugendbewegung. 1942 deportieren die Nazis die junge
Frau mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort
lernt sie ihren Mann Berthold Simonsohn kennen, einen Juristen und
Sozialpädagogen. Beide heiraten kurz vor ihrer Deportation in das
Vernichtungslager Auschwitz – der Ort, an dem die Nationalsozialisten
ihre Mutter ermorden. Als die Schergen das Paar bei seiner Ankunft an
der Rampe trennen, verabreden beide Theresienstadt als Treffpunkt für
den Fall des Überlebens.
Wiedersehen nach Kriegsende
Tatsächlich geschieht es so. Beide sehen sich dort 1945
nach der deutschen Kapitulation wieder. Auschwitz haben sie überlebt;
ebenso die Arbeitslager, in die sie die Nazis von dort brachten. Die
Alliierten befreien deren geschundene und gequälte Insassen kurz vor
Kriegsende. Trude Simonsohn - körperlich geschwächt und krank -
überlebt die Qualen der Zwangsarbeit nur knapp. An Auschwitz erinnert
sie sich nur in Bruchstücken. Es sei, als habe die Seele als
Schutzmechanismus „das Licht ausgeknipst“, sagt sie später. „Dass wir
überlebt haben, ist ein Wunder“, zitiert sie die Jüdische Allgemeine
2016 anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt
Frankfurt.
Nach Kriegsende arbeiten beide für tschechoslowakische
und jüdische Organisationen, um den Holocaust-Überlebenden zu helfen.
Sie betreut tuberkulosekranke und traumatisierte Flüchtlingskinder.
Ihr Weg führt sie über die Schweiz, wo sie standesamtlich heiraten,
nach Deutschland. 1950 zieht das Paar nach Hamburg; dort kommt Sohn
Mischa zur Welt. Fünf Jahre später geht es weiter nach Frankfurt. Er
baut dort die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland auf
und übernimmt eine Professur für Sozialpädagogik und Jugendrecht an
der Goethe-Universität. Sie übernimmt in der jüdischen Gemeinde die
Stelle für Sozialarbeit und Erziehungsberatung. Von 1989 bis 2001
amtiert sie als Gemeinderatsvorsitzende.
Frankfurt wird zur Heimat
Der Weg nach Deutschland ist ihr zuerst nicht
leichtgefallen. In Frankfurt jedoch, schreibt sie, habe sie zum
ersten Mal seit Kriegsende wieder das Gefühl, zuhause zu sein. Die
Stadt mit ihrer Liberalität und Weltläufigkeit scheint zu ihr zu
passen. Aufgewachsen in einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus,
besuchte Trude Simonsohn in Olmütz eine tschechische Grundschule und
später das deutsche Gymnasium. In beiden Sprachen gab sie
Nachhilfestunden. Sie erlebt als Kind und Jugendliche, dass Toleranz
und Verständnis unabdingbare Voraussetzungen einer offenen und
aufgeklärten Gesellschaft sind. Beides Eigenschaften, mit denen auch
das Nachkriegs-Frankfurt oft verbunden wird.
Als ihr Mann 1978 stirbt, beginnt sie, sich als
Zeitzeugin zu engagieren. Trude Simonsohn berichtet vor jungen Leuten
über ihre Erlebnisse. Hierfür nimmt sie einiges an Anstrengung auf
sich: „Manchmal versagt mir die Stimme und ich muss weinen!“ Aber es
sind nicht nur die Schilderungen über das Erlebte, die das Publikum
ergreifen. Ihre Herzenswärme und ihr Humor beeindrucken regelmäßig.
„Ich habe selten eine so starke, bejahende Persönlichkeit wie Trude
Simonsohn erlebt“, erinnert sich Oberbürgermeister Peter Feldmann.
„Ich kannte sie schon als Kind. Mein Vater hat für ihren Mann
gearbeitet – für ihn der entscheidende Grund, nach Frankfurt zu
kommen.“
Weggefährten sind tief beeindruckt
„Einer von Trude Simonsohns typischen Sätze lautet: ‚Es
gibt Menschen, die Briefmarken sammeln. Ich sammele Freunde!‘“,
erinnert sich Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank.
„Mit einer Liebe, die keine Grenzen und keinen Dünkel kennt,
verbindet sie unterschiedliche Menschen auf ziemlich einzigartige
Weise: junge und alte, einheimische und zugewanderte, bildungsnah und
bildungsferne, Juden, Christen, Muslime und Atheisten“, beschreibt er
die Jubilarin.
Feldmann, Korn und Mendel erinnern sich übereinstimmend
an ihren feinsinnigen Humor, gerne antiautoritär gewürzt. „Auch bei
noch so ernsten Themen gab es immer den Punkt, an dem wir gemeinsam
lachten“, berichtet das Stadtoberhaupt. „Sie ist eine hervorragende
Witzeerzählerin, eine ihrem ungewöhnlichen Lebensweg abgetrotzte,
reaktive Eigenschaft“, erläutert Salomon Korn. Dabei nehme sie gerne
auch jüdische Sitten und Bräuche ins Visier. Oft begännen die
Geschichten „Ein Pfarrer, ein Priester und ein Rabbiner“, sagt Meron
Mendel und erinnert sich an einen abendlichen Witze-Wettbewerb von
Trude Simonsohn mit Buddy Elias, dem Cousin Anne Franks.
2016 ernennt die Stadt Frankfurt sie zur Ehrenbürgerin.
Trude Simonsohn ist Trägerin verschiedener weiterer Auszeichnungen.
So erhielt sie neben anderen Ehrungen die Wilhelm-Leuschner-Medaille
des Landes Hessen und den Ignatz-Bubis-Preis für Verständigung. Die
Goethe-Universität Frankfurt ehrte ihre Verdienste um die Erinnerungsarbeit
durch die Benennung eines Saals nach ihr und ihrer Freundin Irmgard
Heydorn. Trude Simonsohn wohnt im Budge-Heim in Seckbach, einer
Einrichtung für Menschen jüdischen und nichtjüdischen Glaubens.
Text: Ulf Baier
Im Alter von 100 Jahren
ist die Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn am 6. Januar 2022 verstorben. Das hat
die Jüdische Gemeinde mitgeteilt. Sie war Ehrenbürgerin der Stadt Frankfurt und
setzte sich viele Jahre als Zeitzeugin für die Erinnerungskultur ein. Die Stadt
Frankfurt spricht den Angehörigen ihre Anteilnahme aus.