Wie die Fegerflotte das Bahnhofsviertel sauber hält
Das Projekt hat großen Mehrwert für die Stadtgesellschaft und schenkt Drogenkranken Sinn und Anerkennung.
Feiner Nieselregen umhüllt die drei Männer, die an diesem
Morgen mit Zange und Müllsäcken ausgerüstet für Sauberkeit im Bahnhofsviertel
sorgen. Am Fuße der wolkenverhangenen Hochhäuser wirkt das Viertel unbelebt,
doch der Abfall auf Gehwegen, Hauseingängen und Grünstreifen zeugt davon, was
tags und nachts zuvor im Bahnhofsviertel los war. Die Kehrmaschinen der FES
fahren bereits durch die Straßen. Zügig und zielgenau picken die Männer mit
ihren Zangen durchnässte Papiertaschentücher, Kippenstummel oder Kaffeebecher
von den Gehwegen. Das ist der „harmlose“ Abfall – spezialisiert sind die Männer
der Fegerflotte auf das Aufsammeln von Drogenutensilien, vornehmlich Spritzen.
Die Fegerflotten-Mitarbeiter kennen die Ecken, wo sich
viel ansammelt, wo Obdachlose ihre Notdurft hinterlassen und Drogenkranke ihre
Drogen konsumieren. Es sind die Ecken im Bahnhofsviertel, die versteckt oder
auf den ersten Blick nicht gut einsehbar sind – gerade im Dunkeln. Am nächsten
Morgen werden die Männer von der Fegerflotte Spritzen, Pfeifen, leere Plomben,
also Plastikfolien, die Heroin, Kokain oder Crack enthielten aufsammeln. Jeden
Tag, von Montag bis Freitag. Wer bei der Flotte mitarbeitet, wird mit einer
Schulung auf die Arbeit vorbereitet. Gefördert wird die Fegerflotte von der
Stabsstelle Sauberes Frankfurt der Stadt, dem Landeswohlfahrtsverband und dem
Frankfurter Arbeitsmarktprogramm FRAP. Der Verein Arbeits- und Erziehungshilfe
(vae) organisiert und führt das Projekt durch. Das Projekt startete im Juni
2002 als gemeinsame Maßnahme des Drogenreferats und der Stabsstelle Sauberes
Frankfurt. Initiiert wurde es von Siggi Drees, Mitarbeiter im Cafe Fix, einer
ehemaligen Drogenhilfseinrichtung. Das Projekt richtete sich zunächst als
Arbeitsangebot an Drogenabhängige, die im Cafe Fix betreut wurden. Aufgrund der
positiven Resonanz im Bahnhofsviertel wurde das Projekt über den viermonatigen
Probelauf hinaus verlängert und läuft seit 22 Jahren. Der vae übernahm von
Anfang an die Betreuung. Das Projekt bietet eine niedrigschwellige
Arbeitsgelegenheit für Menschen mit Suchterfahrung oder für solche in
Substitutionsprogrammen.
Die Fegerflotte sei ein Vorzeigeprojekt mit einer
Win-win-Situation für die Beteiligten und die Stadtgesellschaft: „Die
Teilnehmenden erhalten eine Tagesstruktur mit einer gesellschaftlich sehr
sinnvollen Aufgabe. Sie sorgen für ein höheres Maß an Sicherheit im
öffentlichen Raum, wenn die Gefahren, die von unachtsam entsorgten genutzten
Spritzen und ähnlichem ausgehen können, durch sie beseitigt werden“, erklärt
Claudia Gabriel. Sie leitet seit 10 Jahren die Stabsstelle Sauberes Frankfurt
und ist auch für das Projekt zuständig. „Die Arbeit der Männer wird anerkannt
und sie erhalten positive Rückmeldungen, dies stärkt das Selbstbewusstsein und
kann Antrieb sein, sich persönlich weiterzuentwickeln“, sagt Gabriel.
Täglich stehen drei Routen auf dem Plan: Bahnhofsviertel, Taunusanlage und das Mainufer
Jährlich kommen rund 8000 Spritzen zusammen, vor 20
Jahren waren es noch weit über 10.000, weiß Mete Aydemir zu berichten. Aydemir
ist Arbeitserzieher beim vae und betreut die Fegerflotte. Der 50-Jährige kennt
jedes Mitglied – ihre Biographien, die Sorgen und Probleme.
An diesem Morgen sind Martin, Torben und Mehdi (Namen von der Redaktion geändert) gemeinsam als Team im Bahnhofsviertel unterwegs. Sie alle sind Substituierte, das heißt ihre Drogensucht wird unter ärztlicher Kontrolle mit verordneten Medikamenten und psychosozial behandelt. Sie haben früher selbst Drogen im Bahnhofsviertel konsumiert, ihr Leben auf der Straße verbracht, kennen das Viertel und wissen, wo sich der Abfall aus dem Drogenkonsum sammelt. Drei Routen läuft die Fegerflotte täglich ab: Bahnhofsviertel, Taunusanlage und das Mainufer. Aydemir sagt, dass die meisten Drogensüchtigen nie abhängig von nur einer einzigen Droge seien. „Sie nehmen, was sie kriegen können – Alkohol, Tabletten, Crack oder Heroin.“
Das kann auch Mehdi aus der Fegerflotte bestätigen. Seine Drogenabhängigkeit begann im Iran, als er 16 Jahre alt war. Der 48-Jährige wuchs nahe der Grenze zu Afghanistan auf, Drogen seien dort „normal“ gewesen, jeder habe welche genommen. „Es war nicht teuer und das Leben dort war sehr schwierig und perspektivlos.“ Während er den Müll aufsammelt, berichtet er davon, wie er früh krank wurde, dann Depressionen bekam. „Dann starb mein Bruder im Krieg…“, er verstummt und dreht seinen Kopf weg: „Ja, da fing es dann an.“ Mehdi ist seit acht Jahren bei der Fegerflotte. Er ist verlässlich und jeden Tag dabei. Für ihn sei diese Arbeit wichtig: „Es ist Spaß, Hobby und Arbeit in einem. Ich habe nette Kollegen. Es ist ein bisschen wie Familie, denn in Deutschland habe ich keine.“ Mit anderen Drogenkranken, die im Substitutionsprogramm sind, fühle er sich wohler und angenommen: „Bei normalen Menschen werde ich nervös und bin unruhig. Aber bei der Fegerflotte sind alle wie ich. Und uns wird geholfen, dafür bin ich dankbar.“ Vor 13 Jahren kam Mehdi nach Frankfurt – seit zehn Jahren macht er die Substitutionstherapie und lebt im betreuten Wohnen.
Spritzen und Nadeln sind Sondermüll – sie kommen in einen speziellen Eimer
Mehdi ist in sich gekehrt, konzentriert läuft er die
Straßen im Bahnhofsviertel ab, keine Ecke entgeht ihm. Schon nach 15 Minuten
ist der erste Müllsack voll. Er trägt auch den Spritzeneimer, der eine
spezielle Öffnung hat, aus dem der Abfall nicht herausfallen kann. Drogenutensilien
sind Sondermüll. „Mehdi, ich hab‘ eine Spritze gefunden, bring mal bitte den
Eimer“, ruft Torben. Er steht am Grünstreifen auf dem Karlsplatz. Es bleibt
nicht bei der einen Spritze an diesem Morgen. Allein am Karlsplatz sammeln die
Männer sechs Spritzen und einige Nadeln mit ihren Zangen auf – alle werden in
den Eimer geworfen.
Nadeln und Spritzen findet die Fegerflotte immer. Und
das, obwohl viele Drogenkranke ihre Drogenutensilien auch in braune Metalleimer
mit einer Spezialöffnung werfen können, die eigens dafür in den Straßen hängen.
„Wegen des schlechten Wetters ist heute wenig“, sagt
Torben. Zudem sei es gegen Ende des Monats und da sei das Geld knapp. „Von
Anfang bis Mitte des Monats bekommen alle ihre Stütze, dann hauen sie das Geld
auf den Kopf und es landet mehr Müll auf der Straße“, sagt der 53-jährige
Torben. Er ist seit fünf Jahren dabei und bereits seit über 20 Jahren substituiert
er. Das Substitutionsprogramm habe ihm das Leben gerettet.
Über die
Ableistung von Arbeitsstunden zur Fegerflotte gekommen
"Morgen Jungs!“ – immer wieder wird die Truppe von
Obdachlosen, Drogenabhängigen oder Ladenbesitzern gegrüßt. Die Anlieger seien
dankbar für die Arbeit der Fegerflotte, sagt Aydemir. „Alle kennen uns, das
macht die Arbeit leichter.“
Auch Martin macht die Arbeit gerne. Der 50-Jährige ist in
der Münchener Straße aufgewachsen. Seit acht Jahren arbeitet er bei der
Fegerflotte. Er versuche, jeden Tag dabei zu sein, aber an manchen Tagen mache
seine Gesundheit nicht mit, erzählt er. Seit gut 15 Jahren wird er
substituiert. Martin berichtet zögerlich, es fällt ihm schwer über die Gründe
und die Geschichte seiner Sucht zu sprechen. Er habe bei einem namhaften Autohersteller
seine Ausbildung zum KfZ-Mechaniker gemacht. „Ich stand kurz vorm Meister. Dann
habe ich meine Freundin kennengelernt – sie war süchtig. Eines Tages habe ich
mitgemacht. Man ist jung und verliebt. Macht sich keine Gedanken, erkennt die
Warnsignale nicht und irgendwann ist man ganz unten“, sagt er. Es blieb nicht
bei der Drogensucht, Martin wurde auch kriminell. Eines Tages stand er vor der
Wahl: „Knast oder 2000 Arbeitsstunden.“ Er habe sich für die Arbeitsstunden
entschieden. Die haben ihm das Leben gerettet. Martin sah wieder einen Sinn im
Leben und nachdem er seine Arbeitsstunden abgeleistet hatte, kam er zur
Fegerflotte.
Die Fegerflotten-Mitarbeiter werden für ihre Arbeit mit
einem kleinen Betrag auch entlohnt – abhängig von ihren Einsatztagen. „Viele
schaffen gerade mal drei Stunden am Tag, höchstens sind es sechs Stunden“,
erklärt Aydemir. Neben der Drogensucht kämen bei vielen auch andere Probleme
hinzu. „Obdachlosigkeit, Ärger mit der Justiz und auch psychische Probleme sind
oft an der Tagesordnung. Sie haben keine intakte Familienstruktur, die sie
auffängt. Oft wurden sie aufgrund ihrer Sucht verstoßen und haben keinerlei
Kontakt zu Angehörigen“, weiß der Arbeitserzieher. Er möge seine Arbeit sehr
und manchmal nehme er auch mal selbst die Zange und einen Müllbeutel in die
Hand. „Ich bin ja auch ein Vorbild für sie und mir nicht zu fein, auch mal
mitanzupacken.“ Es gehe zudem darum, Vertrauen aufzubauen und das sei der
schwierigste Teil seiner Arbeit. „Ohne Empathie und Geduld funktioniert es
nicht – doch wenn ich das Vertrauen gewonnen habe, kann ich auch etwas in den
Menschen bewegen und Veränderungen herbeiführen“, sagt er.
Wieder einen Sinn im Leben finden, etwas leisten und zurückgeben
Auch Torben findet, dass die Arbeit Struktur und Ordnung
in sein Leben bringe: „Ich brauche etwas zu tun. Momentan ist es vielleicht
nicht so viel, was ich machen kann, aber ich leiste etwas.“ Der gelernte
Schlosser fing bereits mit „13 oder 14“ mit dem Kiffen an. Seine Eltern ließen
sich scheiden. „Es war eine schwierige Phase, ein Bruch in meinem Leben. Das
Kiffen hat mich beruhigt. Aber irgendwann gibt es keinen Kick mehr und man
möchte mehr, um das Gefühl vom ersten Mal zu haben. Und so kam ich dann auf
Heroin“, sagt er und eilt schnellen Schrittes zur nächsten Ecke mit Abfall. Torben ist flott unterwegs, kein Abfall, keine Nadel und keine Spritze ist vor
ihm sicher. „Hier haben wir eine lange Nadel, die werden für Spritzen in die
Leiste benutzt“, erklärt er und hält mit der Zange eine verbogene und
schmutzige Nadel hoch. Mehdi eilt mit dem Eimer herbei und die Nadel landet
sicher im Behälter.
Auch die FES-Mitarbeiter
sammeln bei ihren Touren täglich Spritzen. Die Fegerflotte ist aber in
Bereichen wie auf Grünflächen unterwegs, für welche die FES nicht zuständig ist
oder mit Kehrmaschinen schlecht herankommt. Zudem unterstützen die Männer der
Fegerflotte Dritte wie Kitas oder andere Einrichtungen, wenn Sie aufgrund von
Spritzenfunden oder sonstigen Utensilien Hilfe brauchen. Zwar ist das Projekt „Offensive Sozialarbeit, Sicherheit, Intervention und
Prävention“ – kurz: „OSSIP“ – der
Polizei ebenso vor Ort, aber gerade für die Entsorgung ist die Flotte der
richtige Ansprechpartner. Sie ist zwischen der Früh- und Mittelschicht der FES
unterwegs und kann entsprechend schnell handeln. Und aufgrund ihrer eigenen
Drogenvergangenheit wissen die Männer der Fegerflotte, an welchen Stellen sie
nachschauen müssen und wo diese Art von Abfällen liegen.
Genau in diesen Punkten liege auch der Vorteil für die
Stadt Frankfurt – eine sinnvolle Aufgabe die gesellschaftlich helfe, den
Teilnehmenden der Fegerflotte Anerkennung bringe, aber keine Konkurrenz zur
einer extern zu beauftragenden Reinigung darstelle, erklärt Claudia Gabriel.
Martin, Torben und Mehdi sehen viel Sinn in ihrer
Tätigkeit. Sie sind sich einig, dass es wichtig ist, das Bahnhofsviertel sauber
zu halten – auch wenn sie jeden Tag aufs Neue Spritzen, Nadeln und anderen
Abfall sammeln. In der Elbestraße angekommen, benötigen sie erneut neue
Müllbeutel. Mehdi läuft auch hier ruhig und konzentriert alle Ecken ab: „Ich
habe mein Gewissen, ich kann nichts liegen lassen! Die Arbeit beruhigt mich.“
Liegengelassen wird von Martin, Torben und Mehdi nichts –
die Tour der Fegerflotte endet nach rund drei Stunden mit vollen Müllbeuteln,
einem gefüllten Spritzeneimer und drei zufriedenen Mitarbeitern.
Text: Pelin Abuzahra