Der Hauptfriedhof: Frankfurts grüne Zeitkapsel
Eine Oase der Ruhe inmitten der Stadt – Frankfurts Hauptfriedhof besticht durch historisch gewachsenes Stadtgrün und neue Nutzungskonzepte.

Auch wenn
das Frankfurter Wetter an diesem Nachmittag eher ungemütlich ist, herrscht doch
reges Treiben auf den verwinkelten Pfaden des Frankfurter Hauptfriedhofs.
Während ein älterer Mann mit verschränkten Händen langsam seine Runden dreht,
tauschen sich zwei Freundinnen in flottem Laufschritt aus. Irgendwo zwischen
den knorrigen Kastanien rollt ein Kinderwagen über die asphaltierten Wege.
Der Hauptfriedhof ist vor allem eines: kontrastreich. Er ist weit mehr als ein
Ort der Erinnerung. Längst ist er auch ein Raum der Lebenden. Geschichte und
Gegenwart verschmelzen, während er mittlerweile zu einer beliebten, ökologisch
bedeutenden Grünfläche für Anwohnerinnen und Anwohner geworden ist. Die
Grabanlage ist eine von 36 städtischen Ruhestätten, dazu kommen zwölf jüdische
Friedhöfe. Sie verändert sich mit der Gesellschaft und fordert dabei neue
Nutzungskonzepte, die den Ort respektvoll weiterdenken, ohne dabei die
Vergangenheit zu ignorieren.
Beinahe 200-jährige Geschichte
Kaum ein anderer Ort in Frankfurt bewahrt so eindrucksvoll die Geschichte der
Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Über 65.000 Grabstätten erzählen
von bedeutenden Denkerinnen und Denkern, die Frankfurt mit ihren Werken
beeinflusst haben – wie etwa Cécile Mendelssohn oder Theodor W. Adorno, die
hier begraben liegen. Auch die Lage des exakt 70,1 Hektar – also fast 100
Fußballfelder – großen Friedhofs, spiegelt den
historisch-gesellschaftlichen Wandel wider. „Der Hauptfriedhof ist sowohl Ort
der Trauer und des Gedenkens, als auch lebendiges Spiegelbild der Frankfurter
Geschichte. Kaum ein anderer Ort in Frankfurt vereint fast zwei Jahrhunderte so
eindrucksvoll und erzählt so plastisch von der bewegten Vergangenheit der
Stadt,“ erklärt Klima– und Umweltdezernentin Tina Zapf-Rodríguez.
Er erzählt von politischen und religiösen Kämpfen und von der Frage nach
Tradition versus Fortschritt. Denn schon vor seiner Eröffnung im Jahr 1828 gab
es hitzige Debatten darüber, ob er überhaupt entstehen sollte. Die Frage danach
war damals eine Reaktion auf die hygienischen und gesellschaftlichen
Herausforderungen der rechtsmainischen Grabstätte, dem Peterskirchhof. An der
heutigen Eschenheimer Anlage gelegen, kämpfte der Friedhof mit Überfüllung und
katastrophalen Bedingungen. Tote wurden wegen Platzmangel nach kurzer Zeit
wieder ausgegraben, der Gestank war unerträglich. Dennoch wollten die mächtigen
Patrizierfamilien den Friedhof nicht aufgeben, denn dort befanden sich ihre
Familiengräber.
Schließlich setzten sich aber Mediziner und Intellektuelle durch und 1828
war es soweit: Der Hauptfriedhof öffnete seine Tore – weit außerhalb der
Stadtgrenze. Ebba D. Drolshagen zitiert in ihrem Buch „Der Melancholische
Garten“ einen Zeitzeugenbericht, der erzählt, wo die Ruhestätte liegt: „Eine
starke Viertelstunde nördlich von Frankfurt auf einer sanft sich verflachenden Anhöhe,
welche eine höchst reizende Aussicht gewährt auf die in der Tiefe liegende
Stadt, auf die waldigen Höhen hinter Sachsenhausen und den fernen Odenwald,
nach Bornheim und der Friedberger Warte hinüber, besonders aber auf das
liebliche Niddathal und den im fernsten Hintergrunde hervortretenden Taunus.“
Der Blick auf Frankfurt und Umgebung muss von dieser Erhöhung zwischen Weiden
und Feldern atemberaubend gewesen sein.
Im Zentrum der Stadt
Wer den Hauptfriedhof heute besucht weiß: Eingebettet zwischen Friedberger und Eckenheimer Landstraße liegt der Ort gegenwärtig inmitten der Stadt, im Minutentakt verbindet die U5 den Hauptbahnhof und die Station Hauptfriedhof. Mit dem Wachstum Frankfurts ist der Friedhof ins Zentrum gerückt und liegt mittlerweile nahe des Bürgerhospitals. Einst von Feldern umgeben, ist er inzwischen längst nicht mehr nur Ruhestätte, sondern Teil des urbanen Lebens. Kein Wunder also, dass man dort neben Trauernden auch schon seit geraumer Zeit auf Spaziergängerinnen, Jogger, oder, auch wenn es die Friedhofsordnung eigentlich verbietet, auf Fahrradfahrerinnen trifft.
Immer mehr Urnengräber

Der zentrale Ort unterliegt ständigem Wandel, dem in erster Linie ein
verändertes Bestattungsverhalten zugrunde liegt. Denn immer mehr Menschen entscheiden
sich für eine Urnenbestattung. Der Anteil der Erdbestattungen nimmt drastisch
ab, mittlerweile sind laut Friedhofsverwaltung mindestens 70, wenn nicht sogar
80 Prozent der Beisetzungen in Frankfurt Urnengräber. Diese sind nicht nur
kleiner und pflegeleichter, sondern auch kostengünstiger. Gut für
Frankfurterinnen und Frankfurter, eine Herausforderung für die
Friedhofsverwaltung. Denn mit der Zunahme der Urnenbestattungen sinken die
Einnahmen für die Friedhofspflege, während die zu pflegende Fläche gleich
bleibt. Eine der Konsequenzen also: Die Friedhofsgebühren müssen steigen, um
die Kosten für die Instandhaltung zu decken.
Die vielen pflegeleichten Urnengräber schaffen aber auch Raum, um den Friedhof
als öffentlichen Ort neu zu definieren. Denn: Im Vergleich zu einer
herkömmlichen Bestattung wird für eine Urnenbestattung weniger Platz
benötigt.
So bestätigt auch Zapf-Rodríguez: „Seit vielen Jahren arbeiten wir daran, das
Friedhofswesen in Frankfurt strukturell zu verbessern und immer wieder an die sich
wandelnden Anforderungen anzupassen – ohne unsere Kernaufgaben zu
vernachlässigen. Neue Begräbnisformen werden angeboten, Grabflächen werden
zunehmend zentriert, sodass außenherum Grünflächen für die Bevölkerung als
Kleinod und Begegnungsraum entstehen können. Die Pflege leistet dann die Stadt,
genauso wie nach und nach die Sanierung denkmalgeschützter Trauerhallen
ansteht. Darüber hinaus spüren wir auch auf dem Friedhof die Folgen des
Klimawandels sehr deutlich: Der Wasserverbrauch steigt, Bäume müssen regelmäßig
auf ihre Standfestigkeit geprüft und vieles mehr.“
Somit rückt schließlich die Frage in den Vordergrund, wie sich Friedhöfe an die
veränderten Bedürfnisse einer modernen Infrastruktur anpassen können. Dafür
entwickelt die Stadt schon seit einiger Zeit neue Nutzungskonzepte, die frei
gewordene Flächen sinnvoll einbinden und den Bürgerinnen und Bürgern an diesem
friedvollen Ort eine abwechslungsreiche Grünfläche bieten.
Sehr hohe
Biodiversität auf dem Hauptfriedhof
Der Hauptfriedhof ist schon heute nicht nur ein Ort des Gedenkens, sondern vor
allem eine grüne Oase inmitten der Stadt. Schon 1828 legte Sebastian Ritz, der
damalige Stadtgärtner, den Grundstein für dieses grüne Kleinod, das vielen
Pflanzenarten, kleinen und größeren Tieren ein Zuhause bietet. Heute ist der
Friedhof der Ort mit der höchsten Biodiversität in Frankfurt. Besonders im
Frühling und Sommer ist er für Vogelliebhaber ein beliebter Beobachtungsposten,
für Spaziergängerinnen ein schattiges Plätzchen in der bepflasterten Großstadt
und ganz grundsätzlich ein Ort der sozialen Begegnung.
„Es wird den klassischen Friedhof mit Reihen von Einzelgräbern oder
Familiengräbern auch in Zukunft geben. Aber insgesamt verändert sich die
Friedhofskultur hin zu einem „Kulturraum Friedhof“, der andere Grabkonzepte
erlaubt, aber auch andere Nutzungen. Das sehen wir auf dem Hauptfriedhof, aber
auch auf den anderen 36 Friedhöfen der Stadt. Wo Gräber aufgelassen – also die
Flächen nicht mehr genutzt werden – entsteht Neues, ist Platz für Kommunikation
und Begegnung. Friedhöfe werden so Teil des öffentlichen Lebens. Eine
Entwicklung auf die wir in Frankfurt schon seit einigen Jahren reagieren“,
betont die Klima- und Umweltdezernentin.
So sind in den vergangenen Jahren auf den freien Flächen im Norden der Anlage
einige Projekte zum Thema Arten- und Naturschutz und sozialer Treffpunkt
entstanden. Ein Garten mit Bienenkästen, einige Insektenhotels aus alten
Baumstumpfen, große Wildblumenwiesen, eine Kräuterspirale: Der Ruheort bietet
eine riesige Vogel-, Insekten-, und vor allem Pflanzenvielfalt. Nächtliche
Schließzeiten, Totholzhaufen und der alte Baumbestand bieten Igel, Kröten,
Eidechsen und sogar Füchsen Unterschlupf. Etwa 60 verschiedene Vogelarten
finden sich in den verästelten Büschen und rund um die Futterstätten. Und auch
unterschiedliche Wildbienenarten wie etwa die Zaunrüben-Sandbiene oder die
Natternkopf-Mauerbiene, Schmetterlinge und allerlei Insekten wie Würmer oder
Ameisen gehören zur Artenvielfalt des Hauptfriedhofs.
Ein öffentlicher Bücherschrank lädt dazu ein, auf einer der vielzähligen Bänke
zu verweilen und sich womöglich mit denjenigen auszutauschen, die nebenan
sitzen. Ab April findet im Wildbienengarten auf dem nordöstlichen Teil der
Friedhofsanlage sogar ein mobiles Café Platz, das zu Gesprächen und Begegnungen
einlädt.
Ein Ort der Kontraste
In drei Jahren feiert der Frankfurter Hauptfriedhof sein 200-jähriges Bestehen
– und bleibt ein Ort der Kontraste. Während er von vergangenen Kämpfen um
Religion und Wissenschaft erzählt, ist er heute grüne Lunge, Treffpunkt und ein
Ort der Biodiversität.
Der Wandel ist ein fortlaufender Prozess, der nicht immer reibungslos verläuft.
Doch der Hauptfriedhof zeigt, wie er ein Raum sein kann, in dem Geschichte und
Gegenwart verschmelzen und der, trotz seiner Verbindung mit dem Tod, ein
lebendiger Teil des städtischen Lebens ist.
Text: Ida Baggen