„Normalerweise kümmern sich Kurator:innen um Sammlungen und Dinge – wir kümmern uns um Menschen“
Das Stadtlabor im Historischen Museum verwandelt Erlebnisse von Frankfurtern in Zeitzeugnisse
Wer ins Museum geht, rechnet mit Gemälden von großen Künstlern, Kronen von Kaisern und Königen aus vergangenen Zeiten und wichtigen Dokumenten der Stadtgeschichte. Aber wie erleben ganz normale Menschen Kunst und Geschichte, aus welcher Perspektive schauen sie auf historische Ereignisse oder die Gegenwart? Wie erleben sie die Stadt? Diesen Fragen geht das Stadtlabor im Historischen Museum Frankfurt (HMF) nach. Hier denken die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Workshops und alleine über ihren eigenen Bezug zu den Themen und Ereignissen nach und erarbeiten daraus einen Ausstellungsbeitrag. Das Ergebnis ist eine Ausstellung, in deren Fokus nicht bloß ein bestimmtes gegenwärtiges und/oder historisches Thema steht – sondern der Blick von Frankfurterinnen und Frankfurtern darauf.
Erfahrungswissen trifft auf fachwissenschaftliche Expertise
„Beim Stadtlabor geht es nicht in erster Linie um einen fachwissenschaftlichen Zugang“, erklärt Angela Jannelli, die das Projekt seit über zehn Jahren betreut und methodisch mitentwickelt hat. „Stattdessen gehen wir von einer subjektiven Perspektive und dem Erfahrungswissen aus. Denn jeder und jede von uns verfügt über Wissen über die Stadt, in der wir leben, da wir sie täglich erleben und erfahren. Beim Stadtlabor fragen wir uns: Wie ist das eigentlich für mich? Wie nehme ich die Stadt wahr? Wie ist mein Verhältnis zu einem bestimmten Thema und wie und wo werde ich damit konfrontiert? So legen wir gemeinsam ein Wissen frei, das eigentlich schon da ist, dem sich die meisten Menschen aber nicht bewusst sind“, sagt Jannelli. Dabei werden die Teilnehmenden von den Kuratorinnen und Kuratoren begleitet. „Unsere Aufgabe ist es, allen einen guten Auftritt zu verschaffen, und dabei bringen wir unsere wissenschaftliche und kuratorische Expertise ein“, erklärt die Kuratorin.2010 begann die Entwicklung des Projekts Stadtlabor. Es basiert auf einer Idee von Susanne Gesser, die heute das Junge Museum und die Vermittlungsabteilung des Historischen Museums leitet und damals anregte, Bereiche im Museum zu schaffen, die partizipativ, also unter Beteiligung von Außenstehenden, entstehen. Kuratorin Jannelli war von Anfang an dabei und erinnert sich, dass sich das Team zu Beginn die Frage stellte, ob die Menschen in der Stadt sich überhaupt für ein solches Projekt interessieren und daran teilnehmen möchten. Und schnell eine Antwort darauf bekam, denn auf das erste Stadtlabor folgten viele weitere Ausgaben. Zu Beginn waren diese noch stadtteilbasiert und fanden in bestimmten Frankfurter Vierteln statt, bis das Team der Kuratorinnen und Kuratoren auf eine thematische Herangehensweise umstieg und so Menschen aus der gesamten Stadt einbinden konnte.
Auf NS-Spurensuche im Heute – mit einer sehr diversen Gruppe
Im dritten Stock
des HMF am Saalhof können die Besucherinnen und Besucher das Stadtlabor
besuchen und anschauen, was die Laborantinnen und Laboranten in etwa einem Jahr
kreiert haben. Am Donnerstag, 9. November, beginnt dort die
Stadtlabor-Ausstellung „Frankfurt und der NS: Auf Spurensuche im Heute“, die
parallel zur Sonderausstellung des Historischen Museums, „Frankfurt und der
NS“, läuft. Der Nationalsozialismus ist ein schwieriges Thema, welches das Team
der Kuratorinnen und Kuratoren dazu bewegte, nicht wie üblich eine öffentliche
Ausschreibung für das Stadtlabor zu machen: „Dieses Mal haben wir gezielt
Menschen angesprochen anstatt offen auszuschreiben. Unser Ziel war es, eine
möglichst diverse Gruppe zusammenzustellen, denn wir wollten ganz konkret
wissen, wie eine moderne und inklusive Auseinandersetzung mit NS-Geschichte in
unserer heutigen, sehr diversen Stadtgesellschaft aussehen kann. Unsere
Ausgangsfragen waren: ,Wo oder in welchen Situationen fühlst Du Dich an den NS
erinnert?‘ und auch ,Welche Assoziationen entstehen, wenn Du Dich mit dem NS
beschäftigst?‘. Mit diesem Stadtlabor-Projekt möchten wir ganz konkrete
Beispiele für persönliche Zugänge zur NS-Geschichte zeigen, unabhängig davon,
ob die eigenen Vorfahren schon zur NS-Zeit in Deutschland gelebt haben oder
nicht. Wenn wir das Projekt offen ausgeschrieben hätten, dann hätten sich
bestimmt in erster Linie Menschen mit direktem familienbiografischen Bezug zur
NS-Zeit gemeldet. Denn die NS-Zeit wird immer noch häufig als ,deutsche
Geschichte' gesehen oder vermittelt. Dabei wirkt sich die Geschichte auf alle
aus, die heute hier leben. Sie betrifft uns alle, egal wo unsere Vorfahren
geboren worden sind.“
Für die
„Spurensuche im Heute“ haben Jannelli und ihr Team Menschen kontaktiert, die
sich bereits mit Erinnerungsprozessen beschäftigt haben, beispielsweise, weil
sie in der Vergangenheit bereits an einem Stadtlabor teilgenommen haben. Eine
von ihnen ist Melanie Hartlaub. Die 73-Jährige begab sich 2018 mit anderen
Teilnehmenden unter dem Motto „Gekauft. Gesammelt. Geraubt?“ auf die Suche nach
in der NS-Zeit geraubten Objekten. Beruflich hat sie sich nie mit Geschichte
beschäftigt – vor ihrem Ruhestand hat sie als Sozialarbeiterin und im
IT-Bereich gearbeitet. Im Historischen Museum ist sie jedoch keine Unbekannte:
Seit 2001 arbeitet sie bereits als Autorin an dem bis 2105 laufenden
Erinnerungsprojekt „Bibliothek der Generationen“ mit, das seit 2012 von Angela
Jannelli kuratiert wird – daher kennen sich die beiden.
„Ich
tauche in mein eigenes Leben ab“
Im diesjährigen Stadtlabor stand für Hartlaub schnell fest,
in welche Richtung ihr Ausstellungsstück gehen soll. Als Nachkriegsgeborene hat
sie sich die Frage gestellt, wie ihre eigene Position in ihrer Kindheit und
Jugend zu NS-Thematik und Verstrickung war. „Ich habe mich selbst als
Zeitzeugin gesehen“, erklärt die Stadtlaborantin. „Nach einem der ersten
Workshops habe ich in mein Notizbuch geschrieben: ‚Frage: Eigenes Verhalten
zwischen Gut und Böse?‘. Das war mein Ausgangspunkt. Denn lange Zeit hat meine
Generation, wenn wir uns überhaupt mit dem Thema beschäftigt haben, die
Protagonisten im eigenen Leben – zum Beispiel in der Schule – in Gut und Böse
eingeteilt. Es gab nur schwarz und weiß.“ In ihrer Familie sei das Ende des
Kriegs und des Nazi-Regimes als Befreiung wahrgenommen worden, erzählt
Hartlaub. Jedoch nicht nur – dazu war auch ihre Familie zu sehr verstrickt:
„Das habe ich bei meiner Recherche zusehends herausgefunden und akzeptiert.
Lange Zeit war das emotional für mich gar nicht möglich.“
Wie sie diese Aufarbeitung den Besucherinnen und Besuchern
des Museums vor Augen führen möchte, war Hartlaub schon früh klar. „Bei diesem
Prozess tauche ich in mein eigenes Leben ab, gucke mein eigenes Leben genauer
an. Deshalb hatte ich schnell das Bild eines überdimensionalen Bilderbuchs für
Erwachsene vor Augen, ein bisschen wie Alice im Wunderland.“ Im Gespräch mit
den Kuratorinnen und Kuratoren hätten sich zwei Ebenen dieses Buches
herausgestellt: Eine, auf der die Geschichte erzählt wird, und eine
Reflektionsebene, auf der Hartlaub das Geschehen aus ihrer heutigen Perspektive
betrachtet. Private Fotos und Dokumente ergänzen den Text und sprechen eine
eigene Sprache. Eines dieser Dokumente ist ein Heft, das sie am 8. Mai 1965
anlässlich des zwanzig Jahre vorher endenden Krieges im Internat in der
Schulstunde gelesen hatte und viele Jahre später während ihrer Recherche in
einem Antiquariat fand. Es diente zur Aufklärung über die Ideologie der Nazis –
Hartlaub erinnert sich jedoch vor allem daran, wie ihr Lehrer damals vor der
Klasse genau diese Ideologie verteidigte und guthieß. Eine Episode, die ihr
deutlich im Gedächtnis geblieben ist, vielen Klassenkameradinnen jedoch nicht,
wie sie auf Klassentreffen herausfand. Ein Beweggrund für ihre Teilnahme am
Stadtlabor: „Ich möchte Leuten meiner Generation, aber auch jüngere, anregen,
auch tiefer nachzuschauen. Das machen nämlich wirklich wenige. In den größten
Teilen der Gesellschaft hat lange Zeit Schweigen geherrscht“, verdeutlicht
Hartlaub.
Menschen statt Objekte
Sich mit einem solch schwierigen Thema auseinanderzusetzen,
vor allem bezogen auf die eigene Vergangenheit und die der eigenen Familie, ist
nicht immer einfach. Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin muss entscheiden,
wie viel sie mit ihrem Ausstellungsstück preisgeben. „Man muss sich mit der
Frage auseinandersetzen, wie viel man von seiner eigenen Geschichte öffentlich
darstellt“, sagt Hartlaub. Für den Großteil der Stadtlaboratinnen und -laboranten
ein sehr emotionaler und manchmal auch schmerzhafter Prozess – umso wichtiger
wird die Arbeit der Kuratorinnen und Kuratoren, die diesen begleiten. „Wir
tragen ja auch eine gewisse Verantwortung für die Teilnehmenden“, betont
Jannelli. „Normalerweise kümmern sich Kurator:innen um Sammlungen und Dinge.
Wir kümmern uns um Menschen. Das ist keine Sozialarbeit, aber Beziehungsarbeit
– im Englischen gibt es dafür den schönen Begriff ‚Emotional Care‘.“ Eine
Arbeit, die von den Stadtlaborantinnen und -laboranten sehr geschätzt wird, wie
Melanie Hartlaub bestätigen kann: „Wir Teilnehmer:innen nehmen das sehr stark
wahr. Man hat ein professionelles, aber auch menschliches Verhältnis, und wird
durch den gesamten Prozess begleitet. Man spürt, dass eine tiefe
zwischenmenschliche Bindung dahintersteckt. Und das wissen wir zu würdigen.“
Jannelli freut das Lob für ihre Arbeit und die ihres Teams,
denn einfach ist es für sie nicht immer. „Es ist total toll, wenn man so viele
Menschen und so viele Sichtweisen auf die Stadt kennenlernt und aus so vielen
verschiedenen Perspektiven auf die deutsche Geschichte gucken kann. Aber die
Arbeit mit Menschen ist immer auch intensiv: Sie erfordert viel Zeit für die
Kommunikation und natürlich auch Empathie. Das macht es manchmal auch sehr
fordernd und aufwändig – vor allem, weil es ja nicht unsere einzige Aufgabe
ist. Objekte kann man auch mal liegen lassen und später bearbeiten, das geht
mit Menschen nicht.“
Pioniere
der partizipativen Museumsarbeit
Was das ganze erschwert, ist, dass Partizipation im Museum
noch in den Kinderschuhen steckt. Denn das Historische Museum in Frankfurt
zählt zu den Pionieren der partizipativen Museumsarbeit und kann auf eine lange
Erfahrung in diesem Bereich zurückblicken – aber wenn man etwas als erstes
macht, hat man oft nicht viele Menschen, mit denen man darüber auf Augenhöhe
sprechen kann. Mittlerweile ziehen jedoch viele andere Museen nach. „Es gibt
zum Glück immer mehr Häuser, die ebenfalls partizipativ arbeiten“, sagt
Jannelli. „Wenn mach sich zum Beispiel bei einer Tagung trifft, merkt man: Wir
alle haben das Bedürfnis, uns auszutauschen. Darüber, was bei dieser Arbeit
eigentlich mit uns passiert, wo die Grenzen zwischen Privatem und
Professionellem sind.“ Zudem wird darüber diskutiert und reflektiert, wie sich
die Rolle der Kuratorinnen und Kuratoren ändert – ein Prozess, der bis jetzt
noch nicht umfassend festgehalten ist. „Wir stehen ganz am Anfang. Die
partizipative Museumsarbeit ist ein Berufsfeld, das noch überhaupt nicht
entwickelt, erfasst oder reflektiert ist“, erklärt die Kuratorin.
Dazu kommt, dass es nicht ausreichend Stellen im Museum gibt
und das Arbeitspensum der Kuratorinnen und Kuratoren daher wächst. Überstunden
sind bei Jannelli nichts Ungewöhnliches. „Es ist eine angespannte Situation.
Ich arbeite mit Menschen – da ist es nicht egal, ob ich mich zurückmelde oder
nicht. Ich kann dann nicht einfach Feierabend machen. Es wird oft nicht
gesehen, wie anspruchsvoll diese Arbeit ist“, verdeutlicht Jannelli.
Erfüllend, aber fordernd: So lässt sich die Arbeit der
Kuratorinnen und Kuratoren des Stadtlabors zusammenfassen. „Langweilig wird es
einem beim Stadtlabor nie“, sagt Jannelli. „Es ist eine ganz besondere Aufgabe,
die man in einem Museum machen kann. Und das gilt sowohl für uns Kurator:innen
als auch für die Besucher:innen: Im Stadtlabor können Sie Menschen treffen,
denen Sie im Alltag niemals begegnen würden. Jeder und jede bringt etwas Eigenes
mit. Das Thema selbst findet man in den offiziellen Geschichtsbüchern, aber
alles, was an den Menschen und an das Erleben gebunden ist, kann man nur im
Stadtlabor erfahren.“
Alle Informationen zum Stadtlabor finden sich unter https://historisches-museum-frankfurt.de/de/stadtlaborExternal Link
Text: Laura Bicker