45 Jahre Jüdisches Besuchsprogramm
18.06.2025, 12:33 Uhr

Eine Woche der Begegnung: Nachkommen ehemaliger jüdischer Frankfurter Familien zu Gast
Eine Woche lang war Frankfurt am Main Gastgeber für rund 40 Besucherinnen und Besucher – Nachkommen jüdischer Frankfurter Familien, die während der NS-Zeit verfolgt und vertrieben wurden. Von Mittwoch, 11., bis Mittwoch, 18. Juni, erkundeten sie die Stadt ihrer Vorfahren und begegneten dabei nicht nur der Geschichte, sondern auch dem Frankfurt von heute. Den feierlichen Abschluss bildete ein Empfang im Kaisersaal des Römers, bei dem Eileen O’Sullivan, Dezernentin für Bürger:innen, Digitales und Internationales, die Gäste verabschiedete.
Seit 1980 besteht das
Besuchsprogramm und ist ein fester Bestandteil der Erinnerungskultur
Frankfurts. Ziel ist es, den Gästen persönliche Zugänge zu ihrer
Familiengeschichte zu ermöglichen – und ihnen Frankfurt nicht nur als
historischen Ort, sondern auch als Stadt der Gegenwart zu zeigen.
Spurensuche zwischen
Vergangenheit und Gegenwart
In der Woche folgten die Gäste den Spuren ihrer Eltern und Großeltern durch
Frankfurt. Das vielfältige Programm führte sie unter anderem ins Jüdische
Museum, in die Europäische Zentralbank und in den Hochbunker der Initiative 9.
November. Auch die Jüdische Gemeinde Frankfurt hieß die Besucherinnen und
Besucher willkommen. Besonders bewegend waren die persönlichen Recherchen:
Unterstützt vom Verein Jüdisches Leben in Frankfurt suchten die Gäste nach
Spuren an ehemaligen Wohnorten, Schulen und anderen bedeutsamen Orten ihrer
Familiengeschichte.
„Die Geschichte von Menschen jüdischen Glaubens, die während der NS-Diktatur
verfolgt und vertrieben wurden, lebt weiter, in ihren Familien und Angehörigen,
sie hinterlässt Spuren. Heute wissen wir, dass Traumata vererbt werden, auch
oder gerade dann, wenn darüber geschwiegen wird. Das Jüdische Besuchsprogramm
der Stadt Frankfurt bietet Menschen die Möglichkeit, den Spuren ihrer Angehörigen
zu folgen, ihren Lebensweg besser nachvollziehen zu können. So übernehmen wir
Verantwortung und bieten einen Raum für lebendige Erinnerungskultur. Diese ist
gerade in Zeiten von wachsendem Antisemitismus und erstarkender
Fremdenfeindlichkeit besonders wichtig“, sagte Oberbürgermeister Mike Josef.
Der Verein Jüdisches Leben in Frankfurt ist der wichtigste
Kooperationspartner des Programms. Seine ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter recherchieren in Archiven, begleiten die Gäste individuell und
ermöglichen so sehr persönliche Begegnungen mit der Vergangenheit. Regelmäßig
gehören auch Gespräche mit Frankfurter Schülerinnen und Schülern zum Programm –
ein lebendiger Dialog zwischen den Generationen.
Beim Abschiedsempfang am Dienstag, 17. Juni, würdigte
Stadträtin O’Sullivan den Mut der Gäste: „Eine Reise nach Frankfurt ist
nicht nur ein Ausflug, sondern auch eine Konfrontation mit den dunkelsten
Kapiteln der eigenen Familiengeschichte. Das ist nicht einfach, und wir wissen
das zu schätzen. Dass sich unsere Gäste für diese persönliche
Auseinandersetzung entscheiden, verdient unseren tiefen Respekt. Gerade in
Zeiten, in denen Antisemitismus wieder zunimmt, ist ihr Besuch auch ein
wichtiges Signal – und mahnt uns alle, Haltung zu zeigen.“
Viele Gäste zeigten sich berührt von der Offenheit und Herzlichkeit, mit der
sie empfangen wurden. Ethan Bensinger, dessen Vater 1908 in Frankfurt geboren
wurde, fand bewegende Worte für das, was dieser Besuch für ihn bedeutet: „Wir
wurden nicht als Touristen empfangen, sondern als Gäste. Nicht um zu vergessen,
sondern um zu erinnern. Nicht um anzuklagen, sondern um anzuerkennen.“
Besonders eindrücklich war für ihn ein Moment im Westend, in dem sich
Vergangenheit und Gegenwart überschnitten: „Ich lief durch die Straßen, in
denen mein Vater spielte und meine Großeltern lebten – und sah junge jüdische
Familien auf dem Weg ins renovierte Gemeindezentrum. Für einen Augenblick
fühlte es sich normal an. Vielleicht war es einmal so. Ich fühlte mich
zuhause.“
Ein Programm mit Tradition
und Zukunft
Das Besuchsprogramm richtet sich an Kinder und Enkel von jüdischen sowie
politisch oder religiös verfolgten ehemaligen Frankfurter Bürgerinnen und
Bürgern. Seit 1980 findet es jährlich statt – lediglich 2020 musste es
pandemiebedingt ausfallen. Organisiert wird es vom städtischen Referat für
Internationale Angelegenheiten.
Auch 45 Jahre nach seinem Beginn bleibt das Programm ein wichtiger
Baustein der Frankfurter Erinnerungsarbeit und ein Zeichen dafür, dass die
Stadt ihre historische Verantwortung ernst nimmt – heute mehr denn je.