"Wir beißen die Zähne zusammen, in der Hoffnung, es kommen auch wieder gute Zeiten"
Ein Gespräch mit dem Ärztlichen Leiter Rettungsdienst der Stadt Frankfurt im Gesundheitsamt, Dr. Frank Naujoks, über Herausforderungen, Erfahrungen und Zuversicht in der Pandemie
Frank
Naujoks ist Ärztlicher Leiter Rettungsdienst im Frankfurter Gesundheitsamt. Der
Anästhesist und Notfallmediziner studierte an der Goethe-Universität und ist in
Frankfurt aufgewachsen. Der 54-Jährige ist seit 2018 im Gesundheitsamt tätig,
zuvor war er 15 Jahre lang Ärztlicher Leiter Rettungsdienste im Landkreis
Offenbach. Er selbst bezeichnet sich als Kind des Rettungsdienstes – seine
Leidenschaft für die medizinische Versorgung der Menschen begann als Schüler im
Schulsanitätsdienst des Goethe-Gymnasiums. Für Naujoks war seine Liebe zur
Heimat der Grund, wieder in Frankfurt zu arbeiten.
Als Ärztlicher Leiter Rettungsdienst hat Frank Naujoks die Aufsicht über die
medizinische Qualität des Rettungsdienstes nach gesetzlichen Vorgaben – auch und
gerade in Pandemie-Zeiten. Zudem ist er maßgeblich am Aufbau des
Corona-Impfzentrums in der Messe beteiligt.
Im Interview berichtet Naujoks von der aktuellen Belastung, warum der erste
Lockdown hilfreich für die zweite Welle ist, und warum er trotz der enormen
Arbeitsbelastung nicht aufgibt.
Herr
Naujoks, Sie sind Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes, was genau ist Ihre
originäre Aufgabe – in Zeiten vor der Pandemie?
Naujoks:
Der Rettungsdienst ist eine sogenannte hoheitliche Aufgabe. Wenn man die 112
anruft, muss in einer bestimmten Zeit der Rettungswagen vor Ort sein. Das
verantwortet die Kommune mit einer Behörde als Rettungsdienstträger. Diese
Behörde ist in Frankfurt die Branddirektion, die wiederum die nach Bundes- oder
Landesrecht als Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen anerkannten
gemeinnützigen Hilfsorganisationen ASB, DRK, Johanniter und Malteser
beauftragt, die Rettungseinsätze zu fahren, beziehungsweise über die
Berufsfeuerwehr selbst an der rettungsdienstlichen Versorgung teilnimmt. Der
Träger des Rettungsdienstes hat einen Ärztlichen Leiter Rettungsdienst – das
bin ich in Frankfurt – dieser stellt sicher, dass die Aufgaben im medizinischen
Qualitätsmanagement effizient und effektiv erfüllt werden. Ich berate fachlich,
unterstütze die Branddirektion und überprüfe die Fortbildungsverpflichtungen
des ärztlichen und nicht ärztlichen Personals. Außerdem erstelle ich
Empfehlungen für ärztliches Handeln und Behandlungsrichtlinien für nicht
ärztliches Personal und überprüfe diese auch. Ich bin zudem dafür
verantwortlich, dass neueste Erkenntnisse der medizinischen Versorgung in die
Fort- und Weiterbildung des Rettungsdienstpersonals integriert werden. Ich
stehe also stets im engen Kontakt mit der Branddirektion und den
Hilfsorganisationen. In Frankfurt ist traditionell die Ärztliche Leitung
Rettungsdienst im Gesundheitsamt mit einer Stabsstelle angesiedelt. Ich
berichte direkt an unseren Amtsleiter Prof. René Gottschalk und der
Branddirektion.
Inwiefern hat sich Ihr Berufsleben
seit Ausbruch der Corona-Pandemie verändert?
Naujoks:
Ich bin unglaublich stolz auf die Kolleginnen und Kollegen, die tagtäglich
trotz der hohen Infektionsgefahr Einsätze im Rettungswagen fahren. Sie arbeiten
die ganze Zeit mit Maske – und das bei körperlich belastender Arbeit. Die
Kolleginnen und Kollegen im Rettungsdienst waren schon früh in der Pandemie aus
eigenem Wissen und der überdurchschnittlich hohen Motivation, gesund und weiter
leistungsfähig für die Bürgerinnen und Bürger zu sein, von sich aus bereit, die
AHA-Regeln auch im privaten Bereich konsequent umzusetzen. Am Anfang der
Pandemie haben wir uns gefragt, was kommt da auf uns zu? Wir sahen die
furchtbaren Bilder aus Italien und wussten: Wir müssen gut vorbereitet sein.
Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht – so mussten wir für die zweite Welle und
den zweiten Lockdown nichts neu regeln. Die Abläufe und die Prozesse im
Kontaktfall zu einem Corona-Patienten sind klar geregelt. Ich bekleide die
Funktion des Ärztlichen Leiters Rettungsdienst zwar ohne direkten personellen
„Unterbau“ oder Vertreter, habe aber mit den Kolleginnen und Kollegen des
Rettungsdienstträgers und den Rettungsdienst-Betriebsleitungen der Feuerwehr
und den Hilfsorgansationen eine sehr schlagkräftige Truppe, in der wir
gemeinsam die auch für uns völlig neuen und sehr dynamischen Herausforderungen
der Pandemie bislang sehr gut bewältigen konnten.
Wie ist die Arbeitsbelastung
momentan bei den Rettungsdiensten? Gibt es einen Unterschied zwischen der
ersten und der zweiten Welle?
Naujoks:
Beim ersten Lockdown haben wir einen Rückgang der Rettungsdienst-Einsätze
registriert. Laut einer Untersuchung der DAK kamen in dieser Zeit zum Beispiel
ein Viertel weniger Patienten mit Herzinfarkt-Verdacht ins Krankenhaus. Dafür
gibt es keine sichere Erklärung, nur Thesen. Es kann sein, dass viele wegen der
Ansteckungsgefahr Angst hatten, ins Krankenhaus zu gehen. Man stellte aber auch
in einzelnen Fällen fest, dass Menschen einen Herzinfarkt durchgemacht haben
und später ins Krankenhaus gegangen sind. Vielleicht trug auch die vermehrte
Arbeit im Homeoffice, und damit der verringerte Stress des fehlenden „zur
Arbeit kommens“ dazu bei, dass weniger Herzinfarkte auftraten.
Wie sieht die Situation zurzeit aus?
Naujoks:
Momentan ist der Rettungsdienst stark belastet. Ein wichtiger Grund ist die
jahreszeitlich bedingte Grippewelle. Außerdem müssen Patienten zum Teil wegen
der tageweise ausgeschöpften Versorgungskapazitäten in umliegende Bereiche
verlegt werden. Hier arbeitet das Rhein-Main-Gebiet im so genannten
Versorgungsgebiet 4 sehr gut zusammen. Ich stehe dazu auch regelmäßig
wöchentlich mit meinen Ärztlichen-Leiter-Kollegen im Umland im Kontakt. Und die
Zahl derer, die an Covid-19 erkrankt sind, und mit dem Rettungsdienst
transportiert werden müssen, steigt. Denn bei einem milden Verlauf der
Infektion müssen die Patienten nicht im Krankenhaus bleiben, aber in häuslicher
Isolation verbleiben. Doch diese Patienten müssen ja auch nach Hause kommen –
das übernimmt mittlerweile der Rettungsdienst, denn private Fahrer oder Taxis
machen das meist nicht. Wir sind auch die Profis in Sachen
Infektionskrankheiten und wissen, wie ein solcher Transport ablaufen muss.
Trotz der enormen Arbeitsbelastung haben wir glücklicherweise kaum
krankheitsbedingten Ausfälle bei den ärztlichen und nicht ärztlichen
Kolleginnen und Kollegen. Wir sind vollumfänglich einsatzfähig.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag mit der Pandemie aus?
Naujoks: Mit den Rettungsdiensten läuft es gut, da wir eben früh unsere Hausaufgaben gemacht haben – dennoch haben wir wesentlich mehr Rettungseinsätze sowie –fahrten als üblich. Ich muss das stets im Blick haben und den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen nicht aus den Augen verlieren. Ich bin trotz dieser Aufgaben noch mit dem Aufbau des Impfzentrums betraut, also ein Zwölf-Stunden-Tag und Arbeiten am Wochenende ist zurzeit Normalität bei uns allen im Gesundheitsamt. Ich habe auch bei der Kontaktverfolgung ausgeholfen, bis wir die personellen Hilfen von außen bekommen haben. Der Flughafen liegt im Zuständigkeitsbereich des Gesundheitsamtes und ich werde in einem Infektions- oder Verdachtsfall – wenn ich Rufdienst habe – dazu gerufen. Während der ersten Welle war ich gemeinsam mit den Infektiologen regelmäßig auf dem Vorfeld anwesend, als die Urlauber aus dem Ausland geholt wurden. Da damals das Nachtflugverbot aufgehoben war, zu jeder Zeit – auch nachts um drei.
Verraten Sie uns, wie viele
Überstunden inzwischen aufgelaufen sind?
Naujoks:
Ich liege da in einem dreistelligen Bereich, es gibt Kollegen im
Gesundheitsamt, die haben Überstunden im vierstelligen Bereich. Auch die
Arbeitsintensität ist enorm gestiegen. Wir müssen wesentlich schneller
erfassen, handeln und umsetzen. Dass man Probleme dann auch mit nach Hause, mit
ins Bett, in die Familie mitnimmt, ist leider nicht verhinderbar.
Gibt es etwas, das Sie in diesen
Zeiten im Arbeitsalltag vermissen?
Naujoks:
Ja, Dinge voranzubringen, neue Projekte zu beginnen, den Rettungsdienst noch
weiter zu optimieren – all diese Dinge schiebe ich vor mir her, denn momentan
reagieren wir mehr als zu agieren. In der ersten Welle haben wir den
Rettungsdienst für diese Zeiten fit gemacht und davon profitieren wir nun. Aber
jetzt stehen wir vor der Herausforderung, ein Impfzentrum in allerkürzester
Zeit einzurichten.
Wie Sie eben sagten, sind Sie
inzwischen auch mit dem Aufbau des Corona-Impfzentrums betraut. Wie viele
Menschen können pro Tag geimpft werden, wenn dieses in Betrieb geht?
Naujoks:
In Frankfurt sollen zu Spitzenzeiten bis 4000 Menschen am Tag geimpft werden,
das ist die Zahl, die vom Land Hessen gefordert ist. Das ist das vierfache von
der üblichen Impfquote in Landkreisen. Das liegt daran, dass Frankfurt so viele
Einwohner hat, deshalb müssen täglich 4000 Impfdosen zur Verfügung gestellt
werden. Es muss sieben Tage die Woche geimpft werden, etwa 300 zu Impfende pro
Stunde – das ist strukturell kein Problem, aber der Zeitmangel ist hier die
große Herausforderung. Das Land legt nur grob das Konzept vor und es wird eine
schnelle Umsetzung verlangt.
Und wie wollen Sie das schaffen?
Naujoks:
Obwohl die Verantwortung für den Aufbau des Zentrums im Gesundheitsamt liegt,
hat die Branddirektion sofort Unterstützung angeboten und den administrativen
Teil mit übernommen. Dafür bin ich persönlich sehr dankbar und zuversichtlich,
dass alles gut laufen wird. So ein Impfzentrum ist etwas völlig Neues. Auch der
Impfstoff stellt eine neue Herausforderung dar: Er wird bei -70 Grad in kleinen
Fläschchen angeliefert, muss kontrolliert aufgetaut und die Impfdosen in einer
sterilen Umgebung in einzelne Spritzen, also Impfdosen, aufgezogen werden.
Dafür brauchen wir medizinisches Personal – viele Medizinstudenten und Ärzte,
die bereits in Rente sind, werden mitarbeiten. Aber auch medizinische
Assistenten werden vor Ort gebraucht. Da wir ein akademisches
Lehrgesundheitsamt sind, hat die Universität mit ihren Medizinstudierenden uns
ihre Hilfe angeboten.
Können Sie verstehen, dass es in
Teilen der Öffentlichkeit Vorbehalte gegen Corona-Impfungen gibt?
Naujoks:
Absolut. Es ist ein neuer und innovativer Impfstoff, zu dem bislang zu wenige
für die Allgemeinbevölkerung nachvollziehbare Informationen verfügbar sind.
Aber es ist wahrscheinlich unsere einzige Möglichkeit, die Pandemie zu
überstehen.
Wie wirkt sich Ihre berufliche
Mehrbelastung auf Ihr Privatleben aus? Haben Sie überhaupt noch Zeit für
Familie und Ehrenamt?
Naujoks:
Für mein ehrenamtliches Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr nehme ich mir
noch ein wenig Zeit. Auch diese Organisation hält einen Teil unserer
öffentlichen Sicherheit und Ordnung ehrenamtlich im ganzen Land aufrecht und
muss in diesen schwierigen Zeiten einsatzfähig bleiben. Und ich habe eine Sache
konsequent beibehalten: Jeden zweiten Tag steige ich um 6 Uhr morgens für eine
Stunde auf mein Laufband im Sportraum meiner Freiwilligen Feuerwehr. Da kriege
ich den Kopf frei und da kommen mir auch die besten Ideen. Das ist ein guter
Ausgleich neben dem Austausch mit der Familie. Meine Frau und meine zwei Söhne
haben viel Verständnis. Sie kennen das schon, dass ich beruflich sehr
eingespannt bin. Und meine Frau ist selbst in einer Leitungsfunktion in der
Anästhesie-Pflege. Meine Familie erdet mich. Fast immer essen wir abends
zusammen, auch wenn es mal später wird. Dann berichtet jeder von seinem Tag,
was ihn geärgert hat oder was gut war. Dieses regelmäßige Zusammentreffen ist
sehr wichtig für uns alle.
Wie motivieren Sie sich und die
Mitarbeiter, trotz der enormen Belastung weiterzumachen?
Naujoks:
In Berufen wie im Rettungsdienst, in Hilfsorganisation und Heilberufen ist
Helfen in der DNA drin. Wir alle wissen, dass das System aufrechterhalten
werden muss. Mein Vorgesetzter, Prof. Gottschalk, vertraut mir und das tut gut.
Wir beißen jetzt die Zähne zusammen, in der Hoffnung, es kommen auch wieder
gute Zeiten. Diese Zuversicht hilft uns allen, weiterzumachen.
Interview: Pelin Abuzahra