„Man muss seinem Alltag auch in der Pandemie einen Sinn geben“
Pfarrer Werner Portugall (58) steht der Großpfarrei St. Jakobus vor, die für 11.000 Katholiken an drei Standorten in Goldstein, Niederrad und Schwanheim eine spirituelle Heimat ist. Im Interview erklärt der Theologe, wie Gottesdienste und seelsorgerische Arbeit trotz Corona möglich sind – und spricht darüber, wie er privat mit den Herausforderungen der Pandemie umgeht.
Herr Portugall, wie kommt Ihre Gemeinde mit dem bisherigen Verlauf der
Pandemie zurecht?
WERNER PORTUGALL: Unsere Kirchengemeinde ist als
Pfarrei mit drei Kirchorten ein ziemlich komplexes Gebilde, was viele
individuelle Lösungen erfordert. Für unsere Gottesdienste haben wir inzwischen
ein sehr gutes Procedere gefunden: Voranmeldungen, Hygienepläne und Abstände
machen auch während Corona vieles möglich. Das Gemeindeleben mit Kindergruppen,
Partys und sonstigen Veranstaltungen ist hingegen komplett ausgesetzt, mit Ausnahme
kleiner Unterbrechungen im Sommer. Das empfinde ich als eine sehr traurige
Entwicklung. Eine Frau sagte mir neulich, sie habe das Gefühl, ihr würde
Lebenszeit genommen. Das beschreibt die Lage ziemlich gut. Es gibt aber auch
positive Facetten und neue Konzepte wie Outdoor-Andachten. An Weihnachten haben
wir uns nachts um 22 Uhr vor der Kirche unter den beleuchteten Christbäumen
getroffen. Diese Feier unter dem Motto „Weihnachten hängt hoch“ ist in
Zusammenarbeit mit der Künstlerin Sabine Fischmann entstanden. Solche
experimentellen Formate kommen gut an und sind ein Beleg, dass sich durchaus
etwas bewegen lässt, wenn man mit Kreativität und positiver Grundhaltung mit
dieser Situation umgeht.
Ihre Gemeinde hat viele Angebote ins Internet verlegt. Wie werden diese
angenommen?
PORTUGALL: Das letzte Jahr hat der Digitalisierung
unserer Gemeinde einen ungemeinen Schub gegeben. Im ersten Lockdown haben wir
sehr konsequent damit begonnen. Inzwischen sind diese Formate und Möglichkeiten
im alltäglichen Betrieb unserer Gremien angekommen. Ich finde es schön, dass
jetzt gebraucht und angenommen wird, was unsere jüngeren Gemeindemitglieder an
digitaler Expertise mitbringen.
Doch nicht alles kann ins Internet verlegt werden. Wie reagieren die
Menschen darauf, dass etwa die Teilnehmerzahl bei Beisetzungen stark limitiert
ist oder Hochzeiten nur noch in sehr abgespeckter Form gefeiert werden können?
PORTUGALL: Wir müssen als Kirche den Menschen oft gar
nichts erklären. Viele sind von sich aus sehr vorsichtig geworden und fragen
uns beispielsweise nach einer Telefonkonferenz statt eines persönlichen
Treffens. Bei Hochzeiten erlebe ich, dass die jungen Leute bewusst sehr offen
und flexibel planen. Die ganze Lage ist für jeden so unüberschaubar, dass
langfristige Planungen einfach nicht möglich sind. Ich erinnere mich an ein
sehr großes Hochzeitsfest, das mit der Zeit immer kleiner geworden ist, weil
viele ausländische Gäste gar nicht mehr einreisen durften.
Und wie läuft es bei der Vorbereitung auf die Firmung?
PORTUGALL: Im letzten Jahr ist der Kurs einfach
entfallen und um ein Jahr verschoben worden. Da die Firmung im Alter zwischen
14 und 17 Jahren möglich ist, lässt sich das gut verschieben. Für dieses Jahr
hat sich unser Katecheten-Team dazu entschlossen, die Vorbereitung im Sommer
und mit Blick auf Draußen zu organisieren. Auch bei der gemeinsamen
Firmfreizeit in Herbstein lässt sich sehr gut auf größerem Raum arbeiten und
leben. Wir planen zudem, mehrere Firmgottesdienste in kleineren Gruppen zu
veranstalten. Bei der Erstkommunion haben wir die Zahl der Teilnehmer ebenfalls
stark entzerrt und auf viele kleinere Gottesdienste verteilt.
Zu Ihrer Gemeinde zählt auch ein Seniorenheim. Wie gestaltet sich die
Situation dort?
PORTUGALL: Alle, die das wollten, Mitarbeiter sowie
Bewohner, haben seit Kurzem beide Impfungen erhalten. Gottlob hat sich im
letzten Jahr kein Bewohner infiziert, auch wenn es bei drei Pflegern
Infektionen mit leichten Verläufen gab. Da die Heimleitung sehr strenge
Hygienepläne ausgearbeitet hat, sind wir an dieser Stelle vergleichsweise
komfortabel durch die Krise gekommen. Wir haben viele seelsorgerische Angebote
bereitgehalten, die überraschenderweise nicht so stark abgerufen wurden. Wir
haben dadurch gemerkt: Es gab und offenbar bereits viele private Kontakte und
Initiativen, die nun zum Tragen gekommen sind.
Sind Ihre Qualitäten als Seelsorger nun mehr gefragt als vor der Pandemie?
PORTUGALL: Gerade in jüngster Zeit berichten mir viel
mehr Menschen in Trauergesprächen von Angehörigen, die an Corona gestorben
sind. Auch erlebe ich mehr Einsamkeit. Besonders schwierig ist es für Gläubige
mit ausländischen Wurzeln, die mir vom Verlust ihrer Angehörigen in ihrer
Heimat berichten und bereuen, dass sie diese vor ihrem Tod nicht mehr sehen
oder besuchen konnten. Ich glaube, dass wir gegen Ende der Pandemie darüber
nachdenken müssen, auf welche Weise wir die Ereignisse der vergangenen Monate
als Gesellschaft reflektieren und thematisieren sollten.
Hat sich die Haltung der Menschen gegenüber Corona während der vergangenen
Monate geändert?
PORTUGALL: Ich habe längere Zeit eine Art
Stigmatisierung empfunden. Mir wurde eher hinter vorgehaltener Hand berichtet:
Diese oder jener ist an Corona erkrankt und verstorben. Die Leute neigten auch
dazu, ihre eigene Quarantäne zu verheimlichen. Das erinnert ein wenig an die
ganz dunklen Zeiten während der Pest-Epidemien, wenn Menschen das Gefühl
entwickeln, sie geraten unter die Aussätzigen. Vielleicht wird all das
inzwischen offener thematisiert. Quantitativ ist die aufsuchende Seelsorge
allerdings nicht häufiger geworden. Ich vermute, dass die Leute bereits genug
private Kontakte haben oder eben des Themas überdrüssig sind.
Sie sind mit vielen Menschen im Gespräch und auch sehr stark in den
sozialen Medien aktiv. Haben Sie dort und in Ihrer Gemeinde Erfahrungen mit
Corona-Leugnern gemacht?
PORTUGALL: Ja, das habe ich. In der Regel sind diese
Menschen zwischen Ende 30 und Anfang 50 und verhalten sich sehr aggressiv und
wenig empathisch. Vor allem in den sozialen Medien, aber auch bei einigen
Gemeindemitgliedern stoße ich auf diese typische Vermengung von tumbem
Populismus und rechtslastigen Argumenten. Dann gibt es noch eine andere
Dimension der Angst, die nun zum Vorschein kommt. Beim Kontakt mit solchen
Menschen sehe ich mich meiner eigenen Haltung verpflichtet und denke, dass
jeder Mensch eine von Gott geschenkte Würde in sich trägt. Ich möchte solche
Menschen daher nicht entwürdigen. Mich hat anderseits sehr überrascht, dass
Bekannte, die man zum Teil sehr lange kennt, ganz neue Aspekte ihrer
Persönlichkeit zeigen. Corona wird Spuren im zwischenmenschlichen Bereich
hinterlassen und unser Miteinander nachhaltig verändern.
Wie sehen Sie die Rolle der Kirche als moralische Instanz in dieser
Pandemie?
PORTUGALL: Ich würde ein Bild von zwei Straßengräben
bemühen, zwischen denen wir versuchen, den Karren auf dem Weg zu halten. Ich
sehe es als Rolle der Kirche, Menschen Räume zu eröffnen, um zu beten, ihre
Angst abzulegen und über ihre Probleme und Trauer zu sprechen. Wir haben die
Kirchen unserer Pfarrei jeden Tag geöffnet. Viele melden uns, dass ihnen der
Besuch im Gotteshaus guttut, sie eine Kerze anzuzünden und Einkehr finden
können. Wir bespielen unsere Kirche zudem regelmäßig mit Orgelmusik oder Musik
vom Band. Mir geht es um solche kleinen Zeichen, die wichtig sind und
wahrgenommen werden. Für säkulare Menschen scheint das befremdlich zu sein, für
Gläubige ist das jedoch ein sehr wichtiger Punkt.
Empfinden Sie als Katholik und professioneller Single bisweilen Einsamkeit
und Hilflosigkeit?
PORTUGALL: Einsamkeit empfinde ich nicht. Was mich
allmählich zu nerven beginnt, ist dieses permanent kontrollierte Leben und die
Tatsache, dass sich alles um Gesundheit als oberstes Ziel dreht. Normalerweise
besuche ich sehr oft Konzerte, gehe ins Kino oder unternehme Pilgerreisen. All
das entfällt für mich fast völlig. Es ist eben ein Unterschied, ob man auf ein
Konzert geht oder sich ein Video im Internet anschaut. Da bleibt ein gewisser
Phantomschmerz zurück.
Haben Sie ein Rezept gegen diesen zwangsweisen Müßiggang entwickelt?
PORTUGALL: Ich habe mich im Sommer stärker meinem
Garten gewidmet und inzwischen hat sich auch meine Wohnung zu einem echten
Urwald entwickelt. Ich arbeite sicherlich stärker und intensiver als zuvor –
auch in meiner Freizeit. Ich finde, man muss seinem Alltag auch in der Pandemie
einen Sinn geben und sich mit sinnstiftenden Sachen beschäftigen.
Glauben Sie, dass sich das Verhalten der Menschen durch Corona nachhaltig
verändern wird und es zu einer Art der sozialen Entwöhnung kommt?
PORTUGALL: Ich bin von der Tendenz her eher ein
zuversichtlicher Mensch. Oben in der Kirchenhierarchie denken viele: Danach ist
nichts mehr wie vorher. Ich denke, es wird einen Punkt geben, ab dem wir
endlich wieder mit Lebenslust und ungezwungen unser Leben genießen dürfen. Es
könnte allerdings sein, dass künftig in der klassischen Erkältungsperiode
einige Menschen zur Maske im Alltag greifen oder sich überlegen, wem sie die
Hände schütteln. Ich glaube aber nicht, dass Corona die Abkehr von der Kirche
massiv beschleunigt. In unseren Kindergärten zeigt sich, dass gerade
Heranwachsende viel offener für rapide Veränderungen sind als Erwachsene. Am
meisten leiden derzeit übrigens die 13- bis 15-Jährigen, weil sie bewusst
reflektieren, was ihnen verloren geht und wie sich die Pandemie auf ihre
Zukunft auswirken könnte. Als Pfarrei haben wir den Kontakt zu unserer Gemeinde
aber nie abreißen lassen. In anderen Gemeinden könnte das gegebenenfalls anders
verlaufen sein und sich auch entsprechend auswirken. Ich glaube daran: Mit
Geduld und Demut schaffen wir das. Dieses Virus mag Teil unseres Lebens
geworden sein, aber wir dürfen nicht zulassen, dass unser Leben nur noch von
diesem Virus bestimmt wird.
Interview: Mirco Overländer