Frankfurt zum Lesen: Bücherzettel Winter / Teil 2
17.12.2021, 12:52 Uhr
Von Amateur- und Profidealern
Drogenkurier Maik kommt eine große Lieferung abhanden, und ihm bleibt eine
Woche, den Koks wiederzubeschaffen, sonst werden seine Auftraggeber sehr
ungemütlich. Thomas, einem Banker, dessen Familie noch nichts von seinem
Rausschmiss aus der Bank weiß, wird alsbald das Wasser bis zum Hals stehen, wo
es seinem Kollegen Steffen nach einer regelwidrigen Fehlspekulation schon hineinläuft.
Als Thomas der Koks in die Hände fällt, wittern er und sein Kumpel darin die
Lösung ihrer Probleme.
Oder wenigstens der finanziellen, denn beide haben obendrein noch mit
familiären Widrigkeiten zu kämpfen: Ein missratener pubertierender Junior, leicht
abgedrehte und gelangweilte Ehefrauen, die der Autor mit mildem Sarkasmus
genüsslich mit Zügen einer Gesellschaftssatire porträtiert. Sie alle geraten
dann aber in den Sog der Ereignisse, als Maik die Spur seiner Kokslieferung bis
zu den beiden im Drogengeschäft reichlich unbedarften Bankern führt. Als die
beiden Amateurdealer versuchen, den lukrativen Fund im kriminellen Milieu an
den Mann zu bringen, lernen sie schnell, dass mit den Profis in diesem Geschäft
nicht zu spaßen ist.
Seinen Titel hat das Buch vom leerstehenden alten Frankfurter Polizeipräsidium, das lange als Unterschlupf für allerlei zwielichtige Gestalten diente und auch sonst für schräge Geschäfte aller Art herhalten musste. Die Teile der Handlung, die nicht in Frankfurt spielen, hat der Autor wie schon früher an seinem Wohnort Groß-Gerau angesiedelt. Im Unterschied zu vielen anderen Krimis spielt bei Rolf Schwob die Polizei kaum eine Rolle, und einen Helden gibt es auch nicht – so ziemlich alle Beteiligten kommen einigermaßen schuldig und mehr oder weniger lädiert aus der Nummer heraus. Und am Ende steht auch nicht der Triumph von Recht und Gesetz, aber – auch das eher ungewöhnlich im Krimi-Genre – fast so etwas wie ein Happy-End.
Rolf Schwob: Das Präsidium, Societäts-Verlag 2021, 240 Seiten, 15 Euro
Von Frankfurts Sonne im Bembel
Alkoholisches aus Äpfeln gibt es in ganz Mitteleuropa, meist unter den Namen
Cidre oder Cider. Die meisten Freunde in Europa hat er in Großbritannien, aber
nur in Frankfurt gilt das „Stöffsche" als Nationalgetränk. Während der
Durchschnittsdeutsche davon im Jahr nur etwa einen halben Liter konsumiert,
gluckern dem „Frankfodder“ zwölf davon durch die Kehle.
So bleibt es auch beim Äppelwoi nicht beim Durstlöschen, sondern es ist eine
regelrechte Kultur mit Geschichten, Regeln und Ritualen entstanden, die hier
dem Leser nahegebracht werden. Naturgemäß nehmen die Zapfstellen für das
Stöffsche mit Schwerpunkt auf Frankfurt den meisten Raum ein. Aber auch im
Umland von Wiesbaden bis Seligenstadt, von der Wetterau bis in den Odenwald
finden sich traditionsreiche Obsthöfe, Keltereien, Spezialgeschäfte und
Straußwirtschaften, in denen man zu vielfältigen Arten und Geschmacksrichtungen
des Apfelweins die traditionellen und neu komponierte Spezialitäten reicht.
Vorgestellt werden dazu Orte und Einrichtungen rund um die
Apfelweinfolklore wie der Ebbelwoi-Express, ein tausend Kilometer langer
Apfelwein-Wanderweg, der Frau-Rauscher-Brunnen und Märkte auf der
Konstablerwache oder in Offenbach.
Jeder der 111 Lokalitäten und Institutionen ist eine Text- und eine Bildseite mit den wichtigsten Basisinformationen gewidmet, und am Ende finden sich Landkarten mit den Einträgen der Schauplätze zur schnellen Orientierung. Die Texte vermitteln Wissenswertes und Unbekanntes, Geschichten und Geschichtchen über des Schoppepetzers Lebenselixier und seine Erzeuger, blicken hinter die Kulissen und gehen auch aktuellen Entwicklungen und Problemen nicht aus dem Weg. Bei der Vorstellung des Buches betont der Autor, wie schwer ihm die Auswahl gefallen sei. Es gebe noch so viel mehr interessante Adressen rund um das Labsal Frankfurter Seelen, dass er über einen zweiten Band nachdenke. Aber bis dahin kann man ja schon einmal mit den 111 Orten aus diesem Buch anfangen, zumal die Beiträge erkennen lassen, wie sehr und offenbar erfolgreich Keltereien und Gastronomie damit bemüht sind, immer wieder neue Mischungen, Geschmacksrichtungen und Leckereien rund um den goldgelben Göttertrank zu kreieren.
Laszlo Trankovits: 111 Orte rund um den Äppelwoi, die man gesehen haben
muss, Emons Verlag 2021, 234 Seiten, 16,95 Euro
Von Meinungen und deren Machern
Als die amerikanische Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg die
Frankfurter Medienlandschaft neu aufstellte, sollte es neben der etablierten
liberal-großbürgerlichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der dem
politisch interessierten Mittelstand zugewandten Frankfurter Neuen Presse auch
ein dezidiert links orientiertes Blatt geben – die Frankfurter Rundschau.
In dem Sammelband zeichnen ehemalige und aktive Redakteure den Weg ihres
Blattes nach, das sich vor allem in der Phase nach 1968 zu einem
meinungsbildenden Leitmedium im linken Spektrum entwickelte und ungeachtet der
Verankerung im Frankfurter Lokaljournalismus eine bundesweite Ausstrahlung
erreichte. Diese Zenitzeit endete Mitte der 1990er Jahre, als die Süddeutsche
Zeitung im links-bürgerlichen Lager Leser gewann, und viele jüngere Leser aus
der links-alternativen Post-68er-Generation sich der taz zuwandten. Die Krise,
die nach der Jahrtausendwende den gesamten Printjournalismus erfasst und
seitdem nicht losgelassen hat, schlug sich auch in der Leitung der Redaktion
nieder: In den ersten gut fünf Jahrzehnten hatte die FR nur drei
Chefredakteure, in der ersten Dekade nach der Jahrtausendwende waren es sieben.
Ob das Blatt nach zahlreichen fehlgeschlagenen Rettungsversuchen nun in der
Ippen-Gruppe einen sicheren Hafen gefunden hat, wird erst die Zukunft zeigen.
Mit der setzt sich FR-Autor Stefan Hebel in dem vielleicht tiefsten und
intensivsten Beitrag dieser publizistischen Selbstvergewisserung auseinander.
Der Band ist nicht nur Lesern mit Interesse an Frankfurts Zeitgeschichte oder Medienlandschaft zu empfehlen. Er bietet neben chronologischen und anekdotischen Rückblicken auch Einblicke in Funktionsweise und Innenleben einer Redaktion, deren Berichterstattung seit 75 Jahren den Diskurs in der Mainmetropole und lange Zeit auch weit darüber hinaus mitgeprägt hat – und die nun, wie nahezu alle Medienhäuser, intensiv über die eigene Zukunft im rasanten Wandel der Medienwelt diskutieren muss. Dabei sind die flott geschriebenen, ebenso eingängigen wie substantiellen Texte der beste Ausweis dafür, was hochwertiger Textjournalismus nach wie vor zu leisten vermag: Solide Information, brillante Analyse, meinungsstarke Kommentierung und unterhaltsame Lektüre.
Richard Meng/Thomas Kasper (Hg.): Haltung zählt, edition7 2021, 134 Seiten,
18 Euro
Von geschmeidigen Männern
Paula Bloom hatte als Tochter eines amerikanischen Geschäftsmannes im Berlin
der Nazizeit der 30er Jahre ein privilegiertes Leben geführt, in dem von den
heraufziehenden Schrecken von Krieg und KZ nicht viel zu spüren war. Nach ihrer
Ausbildung zur Nachrichtenoffizierin in Camp Ritchie kehrte sie in das
innerlich wie äußerlich zerstörte Land zurück und wird dabei auch mit den
Schatten der eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Ihr Auftrag lautet, einen österreichischen Juden zu überprüfen, der den
Amerikanern seine Dienste anbietet und behauptet, während des Krieges einer der
wichtigsten Agenten der deutschen Abwehr gewesen zu sein. Bei ihren
Nachforschungen wird ihr immer klarer, wie eng die Wirtschaften der Vereinigten
Staaten und des Nazireiches mit einander verflochten waren, und wie
einflussreiche Kreise daran arbeiten, die abgerissenen Fäden wieder zu
verknüpfen. Denn während in Nürnberg noch über die Hauptkriegsverbrecher
gerichtet wird, und in Frankfurt die Menschen versuchen, mit den Folgen des
letzten Krieges zurechtzukommen, arbeitet man wenige Kilometer weiter in Camp
King in Oberursel bereits an der Vorbereitung des nächsten. Im Maschinenraum
des Kalten Krieges sind Pragmatiker am Werk, die dabei auch vor der
Zusammenarbeit mit NS-Tätern nicht zurückscheuen – die sich ihrerseits
geschmeidig den Feinden von gestern anzubiedern suchen.
Die Handlung, die sich im Wesentlichen aus Gesprächen entwickelt, spielt zwar hauptsächlich in und um Frankfurt, berührt aber zahlreiche andere Schauplätze in ganz Europa und changiert szenisch zwischen verschiedenen Zeitebenen. Auf diesen Bühnen tritt neben den fiktiven Romanfiguren eine ganze Anzahl historischer Gestalten auf, die damals am Anfang ihrer Laufbahn standen und in späteren Jahren noch bedeutende Rollen im Zeitgeschehen spielen sollten. Nachworte des Autors und eines Fachhistorikers ziehen Trennlinien zwischen Fakten und Fiktion, vermitteln Hintergründe und verweisen auf weiterführende Literatur. Den Leser erwartet eine durchaus anspruchsvolle, immer wieder mit überraschenden Wendungen aufwartende Auseinandersetzung mit Grausamkeit, Zynismus, Mitläufertum und der Wucht persönlicher Verantwortung vor dem Hintergrund der deutsch-amerikanischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte.
Andreas Pflüger: Ritchie Girl, Suhrkamp 2021, 464 Seiten, 24 Euro
Von tödlichen Tinkturen
Am 23. März 1914 wurde in Frankfurt der Mörder Karl Hopf hingerichtet – ein
Fall, der seinerzeit in ganz Europa großes Aufsehen erregte. Der damals
50-Jährige war einige Wochen zuvor vor dem Frankfurter Schwurgericht wegen
mehrfachen Giftmordes und Mordversuchs angeklagt und wegen vier eindeutig
nachweisbarer Mordversuche und einer vollendeten Tat verurteilt worden.
Im ersten Teil des Buches wird die Lebensgeschichte des zumeist erfolglosen,
wegen kleinerer Delikte mehrfach angezeigten und einige Male vorbestraften
Geschäftsmannes, Hundezüchters, Fechtlehrers und Artisten geschildert. Obwohl
ein ausgemachter Unsympath, konnte er doch bei Bedarf durch charmantes und
hochstaplerisches Auftreten besonders Frauen für sich einnehmen – und er
verstand genug von Pharmazie und Biologie, um mit Giften und Bakterien umgehen
zu können. Diese Kenntnisse setzte er mehrfach ein, um, begünstigt durch die
unglaubliche Fahrlässigkeit des Hausarztes, unliebsame Verwandte oder Ehefrauen
zwecks Abkassieren der Lebensversicherung ins Jenseits zu befördern. Als seine
aktuelle dritte Ehefrau ihm auf die Schliche kam und ebenfalls rätselhaft
erkrankte, kamen Ermittlungen in Gang. Der zweite Teil des Bandes ist dann der
minutiösen Rekonstruktion des Prozesses gewidmet, und mancher Leser wird
erstaunt sein, welchen Aufwand die Justiz des heute gern als autoritär und
rückständig verschrienen Kaiserreiches über sechs Verhandlungstage trieb, um
die Tat auszuleuchten und dem Täter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Es
wurden eigens Nachweisverfahren entwickelt, um Giftrückstände in Leichen und
sogar der Asche von Feuerbestattungen nachzuweisen, Sachverständige wurden
eingeschaltet, ein psychiatrisches Gutachten erstellt, bevor die Geschworenen
nach ausführlichen Plädoyers zu einem sehr differenzierten Urteil gelangten.
Im Fernsehen würde man dieses Buch wohl als Doku-Drama bezeichnen, in dem die
trockenen Fakten dem Publikum in Spielszenen präsentiert werden. Der Autor,
selbst Staatsanwalt und Richter, hat in erster Linie Prozessakten und
zeitgenössische Medienberichte gründlich ausgewertet und szenisch umgesetzt
sowie dazu im Anhang Begriffe, Personen, wichtige Rechtstexte und seine Quellen
zusammengestellt.
Herausgekommen ist ein ebenso nüchterner wie kontrastreicher Bericht über ein monströses Verbrechen, dessen Umfeld im kaiserzeitlichen Frankfurt sowie Ermittlungsmethoden und Prozessführung der damaligen Zeit, wie ihn sich ein Krimi-Schriftsteller kaum besser hätte ausdenken können.
Thomas Schnepf: Frankfurter Giftmorde. Der Fall Karl Hopf, Verlag Stefan
Kehl 2021, 272 Seiten, 14,80 Euro
Vom Überleben im Auge des Orkans
Der ruhigste Platz in einem Orkan ist bekanntlich das Auge des Sturms. Ebendas
dachte sich der 23-jährige polnische, obendrein noch jüdische
Widerstandskämpfer Filip Vincel, der nur knapp den Sowjets entkommen war, und
gelangte mit gefälschten Papieren als angeblicher französischer Fremdarbeiter
erst in eine Eisenbahnwerkstatt bei Mainz und von dort im Sommer 1943 nach
Frankfurt. Dort schlägt er sich zunächst als Kellner im renommierten Parkhotel
am Wiesenhüttenplatz und später als Bibliothekar in der Stadtbibliothek durch.
Da die meisten jüngeren Deutschen eingezogen waren, wurden die verwaisten
Arbeitsplätze im Reich mit Arbeitskräften aus den besetzten Ländern besetzt.
So auch das bunt gemischte Hotelpersonal, in dem jeder versucht, sich auf
Kosten der Direktion und der Gäste die Taschen zu füllen, so gut es eben geht.
Unverfroren, kaltblütig und zynisch fordert Filip immer wieder das Schicksal
heraus, riskiert Kopf und Kragen, um seine kleinen Siege über die
Nazi-Deutschen zu feiern, von denen die Nobelherberge bevorzugt frequentiert
wird. So entsteht aus einer ebenso intimen wie distanzierten Perspektive ein
lebendiges Stimmungsbild vom Alltagsleben an der Heimatfront des Dritten Reich
im alten Frankfurt kurz vor seinem Untergang, der sich in Form der anschwellenden
Bomberströme bereits abzeichnet.
Dieses Bild ist umso stimmiger, als der Ich-Erzähler vom Leben und Überleben im Strudel des Krieges im Wesentlichen auf eigene Erlebnisse stützen konnte. In den Grundzügen trägt diese aberwitzige Geschichte, die in mancher Hinsicht an die des „Hitlerjungen Salamon“ erinnert, in der der jüdische Junge Sally Perell in brauner Uniform den Holocaust überlebt, autobiographische Züge. Tyrmand kehrte nach Polen zurück, wo er in der Nachkriegszeit ein Star der Kulturszene wurde, ein unangepasster Lebemann, Journalist und Autor, der aber bei den kommunistischen Machthabern aneckte und in die USA auswanderte. Mit sechzigjähriger Verspätung ist dieser buchstäblich fabelhafte, autobiographische Schelmenroman nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienen.
Leopold Tyrmand: Filip, Frankfurter Verlagsanstalt 2021, 633 Seiten, 24 Euro
Von einer ziemlich lauten stillen Nacht
Weihnachtsfeier im illustren Vorstandskreis der Frankfurter Eintracht, etwas
rustikaler bei einigen Hardcore-Fans zum Gedenken an einen verstorbenen Kumpel
ein paar Ecken weiter. Plötzlich dringt ein Trupp Vermummter in die
Geschäftsstelle ein und entführt die ganze Gesellschaft. Ex-Hooligan und
Journalist Severin nimmt die Verfolgung auf, bis er im Theatertunnel selbst den
Entführern in die Hände fällt.
Pressesprecherin und inzwischen SGE-Vize Lydia versucht inzwischen alles, um
Freund Severin und der Polizei bei der Bewältigung der Lage zu helfen, die
zunächst nach einer Geiselnahme mit Lösegeldforderung aussieht. Bald zeigt sich
indes, dass noch weit mehr dahintersteckt. Aus der Eintracht-Vergangenheit
taucht eine Gestalt auf, die nicht nur mit den Adlerträgern noch eine Rechnung
offen hat. Damit reicht das Geschehen weit über Frankfurt hinaus und droht die
ganze Stadt in den Abgrund zu reißen.
Vater und Tochter Müller-Braun erzählen in ihrem nunmehr dritten Eintracht-Krimi ihre Geschichte wiederum aus den wechselnden Blickwinkeln der beiden Protagonisten. Hinzu kommen ein ebenso kompetenter wie arroganter Polizeikommandeur, der mit einem nicht minder selbstbewussten Oberstaatsanwalt aneinandergerät und darüber fast den Kampf gegen eine Truppe sinistrer Finsterlinge und deren Verwicklung in internationale Machenschaften aus den Augen verliert; eine Mischung, die bisweilen für ein gewisses Haarsträuben sorgt. Denn alle Einzelteile dieser Story liegen irgendwo in Frankfurt herum, und es braucht sie nur jemand zusammenzufügen, um ein äußerst bedrohliches Szenario heraufzubeschwören – zum Glück einstweilen nur zwischen Buchdeckeln.
U.D. Müller – Braun: Stille Nacht. Eintracht Frankfurt-Krimi,
Societäts-Verlag 2021, 336 Seiten, 15 Euro
Von Lager, Arbeit und Tod
Bei dem Wort Konzentrationslager tritt einem unwillkürlich das Bild von stacheldrahtumzäunten Baracken auf freiem Feld vor Augen. Je länger der Zweite Weltkrieg dauerte, desto häufiger fanden sich sogenannte Außenlager auch mitten in Städten und Industriegebieten, so auch in Frankfurt. Eines davon, und eines der schlimmsten überhaupt, auf dem Gelände der Adlerwerke im Gallus. Dort wurde eine breite Palette von Zulieferteilen für die deutsche Rüstungswirtschaft produziert, der gegen Kriegsende immer mehr Arbeitskräfte fehlten: Viele deutsche Arbeiter waren zur Wehrmacht eingezogen oder in noch wichtigere Industriezweige versetzt worden, und mit dem Vormarsch der alliierten Streitkräfte trocknete das Reservoir an Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus den besetzten Gebieten zunehmend aus. Daher wurden vom Sommer 1944 bis in die letzten Kriegswochen 1945 Tausende von Häftlingen aus den Konzentrationslagern der SS zur Zwangsarbeit in die deutschen Industriebetriebe verschleppt.
In ihrer breit angelegten Studie hat die Autorin nahezu alle Aspekte des
Häftlingseinsatzes und der Lebensverhältnisse im KZ „Katzbach“ untersucht. Der
Name war ein reiner Tarnname ohne Bezug zu einer Frankfurter Örtlichkeit.
Tatsächlich bezeichnete er den Unterkunftsbereich der zumeist aus Osteuropa
stammenden Arbeitssklaven in einem abgetrennten, primitiv hergerichteten Teil
der Werksgebäude. Jede minimale Verfehlung wurde willkürlich und brutal
bestraft, und die Lebens-, Arbeits- und vor allem die Ernährungsbedingungen
waren so erbärmlich, dass mehr als vierzig Prozent der rund 1600 unterernährten
und entkräfteten Arbeitskräfte starben; eine Todesrate, die weit über der in
anderen vergleichbaren Industriebetrieben lag.
Dazu gibt es Informationen über die Wachmannschaften, das Verhältnis zu Geschäftsleitung und Stammbelegschaft bis hin zur Auflösung des Lagers und der juristischen Aufarbeitung der Misshandlungen. Die Autorin konnte auf eine dichte, sorgfältig und transparent ausgewertete Quellenlage zurückgreifen. Ihre stocknüchterne, bisweilen staubtrocken-dokumentarische Schilderung lässt Elend und Grauen dieser Arbeitshölle nur umso drastischer hervortreten. Wer dieses Buch gelesen hat, wird wohl nie wieder unbefangen in der morgendlichen S-Bahn an der Backsteinfassade der ehemaligen Adlerwerke vorbeirollen können.
Andrea Rudorff: Katzbach – Das KZ in der Stadt, Wallstein Verlag 2021, 368
Seiten, 38 Euro
Vom Hiegucke un Widderfinne
Memory hat wohl jeder schon gespielt. Eine Anzahl quadratischer Plättchen liegt
auf dem Tisch, mit der identischen Rückseite nach oben. Auf der verdeckten
Unterseite finden sich verschiedene Motive, von denen jedes zwei Mal vorkommt.
Die zwei bis sechs Mitspieler decken dann reihum je zwei Karten auf. Wer zwei
identische Karten aufdeckt, darf das Paar behalten. Nicht zusammengehörige
Plättchen werden wieder umgedreht und zurückgelegt. Es kommt also darauf an,
sich zu merken, wo eine Karte lag, damit man beim Auftauchen des identischen
Bildes zugreifen kann, denn wer am Ende die meisten Pare vor sich liegen hat,
verlässt den Tisch als Gewinner.
Das Besondere an diesem Memory sind die Bildmotive. Die Autoren haben eine
Auswahl Frankfurter Motive fotografiert, sodass zusätzlich zum Spiel auch noch
ein munterer Ratespaß aufkommt. Und der hat es in sich, denn mit den üblichen
Frankfurter Postkartenmotiven wird man hier nicht gelangweilt. Vielmehr muss man
bei Stadtspaziergang und Einkaufsbummel schon sehr genau hingesehen haben, um
die kleinen Details wahrzunehmen, die die beiden langjährigen Stadtführer mit
Kennerblick ausgewählt und in Szene gesetzt haben. Um ausufernde Diskussionen
oder gar Familienstreit zu vermeiden, gibt es ein Begleitheft, in dem jedes der
36 Motive präzise beschrieben ist. Zusätzlich hilft ein Stadtplan mit
Markierungen bei der sozusagen zweiten Entdeckung der Fundorte.
Ein Spiel also, das man gleich zwei Mal spielen kann: Erst am Familientisch und anschließend als vergnügliche Memory-Schnitzeljagd beim nächsten Nachmittagsspaziergang. Ein Geschenk nicht nur für Neu-Frankfurter; auch wer glaubt, schon alles (wiederzu-)erkennen, wird hier noch auf bislang unbekannte Frankfurter Details stoßen.
Silke Wustmann/Till Fischer: Frankfurt im Detail. Memo – Spiel, Ravensburger
2021, 19,99 Euro
Von Thomas Scheben
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